Auf zwölf Quadratmetern

Inspiriert vom Schicksal der Elisabeth F.: Emma Donoghues eindringlicher Roman „Raum“.

Den Versuch, eine Geschichte aus der Sicht und in der Sprache eines Fünfjährigen zu erzählen, kann man getrost als gewagt bezeichnen. So wünscht man sich zu Beginn der Lektüre gelegentlich auch, dass Jack, der kleine Ich-Erzähler des Romans, doch zumindest schon acht Jahre alt wäre und die Grundkenntnisse der Sprache ein wenig besser beherrschte. Literatur ist anderswo!

Man ist geneigt, das Buch wegzulegen. Dann jedoch beginnt der Roman von Emma Donoghue einen eigenartigen Sog zu entwickeln. Man taucht in Jacks Welt ein und stellt nach und nach und mit steigendem Entsetzen fest, dass diese nur aus einem einzigen Raum besteht. „Raum“ – so nennt Jack seine Welt – ist zwölf Quadratmeter groß. In ihm gibt es einBett, einen Tisch, zwei Stühle, einen Schrank, in dem er sich verstecken muss, wenn Old Nick kommt, und einen Fernseher. Die Tür zu „Raum“ ist verschlossen, sie lässt sich nur mithilfe eines Codes öffnen, den weder Jack noch seine Mutter kennt. „Raum“ ist Jacks ganze Welt. Eine andere kennt er nicht. Hier wurde er geboren, und hier hat er bisher gelebt.

Jack und seine Mutter leben in Gefangenschaft, denn Letztere ist, wie sich herausstellt, das Opfer einer Entführung, die sieben Jahre zurückliegt. In „Raum“ fühlt Jack sich sicher. Ein Draußen existiert nicht für ihn. Die Welt, die er im Fernsehen sieht, hält er für Illusion. Real ist nur, was innerhalb der engen Grenzen seines bisherigen Daseins zu seinem Erfahrungsbereich gehört. So ändert sich Jacks Leben nach der abenteuerlichen Flucht mit seiner Mutter aus „Raum“ radikal – und nicht unmittelbar zum Besseren! Das Draußen macht Angst, es überfordert mit seinen zahllosen Eindrücken. Jack und seine Mutter müssen sich in ihr Leben in Freiheit erst einfinden.

Situation der Unterwerfung

Emma Donoghues Roman erzählt von einer Welt in der Welt, von einer Welt, die nicht enger sein könnte. Zugleich erzählt er jedoch auch von der Fähigkeit des Menschen, sich an Lebensumstände anzupassen, um überleben zu können, und von der namenlosen Angst, die aufkommt, wenn es gilt, aus der Situation der Unterwerfung auszubrechen, mit anderen Worten, den Sprung ins Ungewisse zu wagen. Mitunter stellt es sich als äußerst schwierig dar, das Vertraute zugunsten des Unvertrauten, Fremden zu verlassen, selbst dann, wenn das Vertraute als die totale Unterdrückung erlebt wird. Die sich wiederholenden Mechanismen und Rituale der Unterwerfung kennt man. Sie überraschen nicht!

Emma Donoguhe hat ihren Roman, angeregt von der wahren Geschichte Elisabeth Fritzls, die mit ihren Kindern über Jahre hinweg eingesperrt war, geschrieben. Sie hätte das reißerischer und wesentlich weniger eindrucksvoll tun können. Das Konzept, die Geschichte aus der naiven Perspektive eines Kindes zu erzählen, mag anfänglich, zumindest was den Stil betrifft, gewöhnungsbedürftig sein, es stellt sich zusehends jedoch als äußerst effektiv heraus. Die Tragik des Geschehens begegnet uns so in aller Einfachheit und Naivität, und das potenziert sie geradezu ins Unermessliche. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.01.2012)

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