Die zweite Chance auf dem Brett

Marcel-André Casasola Merkle untersuchte in seinem Spiel „Santa Cruz“ die Frage, wie wir mit einer zweiten Chance umgehen – und erhielt dafür den „Spiel der Spiele“-Preis 2012. Eine Annäherung an den Entstehungsprozess.

Was wäre, wenn...? Wenn wir etwas noch einmal machen könnten? Würden wir es dann anders machen? Und wäre es dann unbedingt besser oder nicht doch langweiliger, weil wir die Sache mit einer gewissen Vorbereitung angehen?

Genau diese Gedanken hat Marcel-André Casasola Merkle hin und wieder. Etwa, wenn er auf den Bus wartet, unter der Dusche steht oder sich im Supermarkt an der Kassa anstellt. Casasola Merkle unterscheidet sich damit wohl kaum von anderen Menschen. Allerdings muss er – im Gegensatz zu den „anderen“ – es nicht bei dem Gedankenexperiment sein lassen. Der Deutsche hat nämlich einen Beruf, in dem er die Sache – wenn auch spielerisch – dann doch etwas weiterspinnen kann. Casasola Merkle verdient sich neben seiner Tätigkeit als Illustrator und Grafiker sein Geld als Spieleautor.

Sein jüngstes Werk, das Setz- und Sammelspiel „Santa Cruz“, basiert auf eben diesem „Was wäre, wenn...?“-Gedanken und wurde soeben mit dem österreichischen „Spiel der Spiele 2012“-Preis ausgezeichnet. Gearbeitet hat Casasola Merkle in Summe zweieinhalb Jahre an dem Spiel, bei dem es um die Besiedelung einer Insel geht. Für ihn ist das eine vergleichsweise lange Zeit. Für die meisten seiner 15 Spiele hat er rund eineinhalb Jahre gebraucht.

„Die Ideen zu den Spielen kommen nebenbei, in toten Momenten“, sagt Casasola Merkle. Also eben im Supermarkt, an der Tankstelle oder daheim unter der Dusche. Schwirrt diese Idee ein, zwei Wochen lang in seinem Kopf herum, dann weiß der Spieleautor: Es lohnt sich, dieser nachzugehen. Also stand für ihn recht rasch die Basis von „Santa Cruz“ fest: Es gibt zwei Durchgänge, wobei beim zweiten direkt auf den ersten reagiert werden kann. „Macht man im ersten Durchgang einen Fehler, dann kann man ihn im zweiten ausbügeln. Es ging mir um die zweite Chance. Zu wissen, wie es sich anfühlt, wenn man das noch einmal machen kann. Und die Frage, ob dann wirklich alles besser wird.“ Steht dieser Kern, geht es darum, Elemente zu finden, die genau diesen Mechanismus unterstützen. Im Fall von „Santa Cruz“ sind das ein Spielbrett, Karten und – „Fluch der Karibik“ lässt grüßen – die Inselthematik. „Ich mag Inselgeschichten, weil sie eine kleine abgeschlossene Welt sind. Man muss da nicht viel erklären, die Geschichte unterstützt die Spielregeln. Jeder weiß, was gemeint ist, wenn es heißt: Ein Schiff muss anlegen.“

Nachdem das festgelegt ist, entwickelt Casasola Merkle einen Prototyp, mit dem er selbst die ersten Testrunden unternimmt. „Das ist ein entscheidender Moment, weil sich herausstellt, ob man damit Spannung entwickeln kann.“ Erst dann fängt für ihn die „richtige“ Arbeit an. Casasola Merkle, der auch Film studiert hat, vergleicht diese gern mit jener an einem Drehbuch. Wobei: Viele Regeln gibt es bei der Arbeit an der Entwicklung nicht. Auch für Spieleautoren gilt: Das meiste lernt man durch Praxis, also Spiele entwickeln, Spiele spielen und sich mit Kollegen austauschen. Das macht Casasola Merkle vor allem bei der jährlichen Spieleautorentagung, die seit sechs Jahren in Hessen stattfindet.

Die „richtige“ Arbeit passiert, im Gegensatz zur Ideenfindung, im Normalfall allerdings nicht allein. Denn nachdem ein, zwei Monate an dem Spiel gebastelt wurde, geht es darum, einen Verlag zu finden. Hat man ihn gefunden – im diesem Fall „Hans im Glück –, fängt eine zweite, gemeinsame Entwicklungsphase an. „Die hat mit dem Verlag noch einmal zwei Jahre gedauert.“ Casasola Merkle genießt die gemeinsame Arbeit und vergleicht sie mit jener zwischen Autor und Lektor an einem Buch: Man wirft sich gegenseitig Bälle zu, bekommt Feedback und hat – wenn etwa der Verlag am Zug ist – auch einmal ein paar Wochen Zeit, von dem Ganzen Abstand zu gewinnen. Generell arbeitet der 34-Jährige meist an mehreren Projekten und Spielen gleichzeitig. Das wiederum hat nicht nur finanzielle Gründe. Die Abwechslung führt durchaus zu gegenseitiger Befruchtung. Immerhin ermöglicht der Abstand ja dann doch neue Perspektiven.

Bei „Santa Cruz“ wurde gemeinsam mit dem Verlag etwa daran gearbeitet, Mängel auszubessern, das Spielfeld variabler und das Spiel langzeittauglich zu machen. „Irgendwann beginnt dann die Produktionsphase, in der die Grafik gemacht und die Spielregel geschrieben wird.“ Wann genau das sein wird, bestimmt meist der Verlag. Denn: „Als Autor ist man nie fertig und findet immer noch etwas zu verbessern.“ Den „Jetzt ist es fertig“-Moment gibt es für ihn also nicht. Casasola Merkle tut sich mit der umgekehrten Situation leichter. „Man weiß viel eher, was noch nicht passt.“

Bei „Santa Cruz“ dürfte das nicht mehr allzu viel sein. Mittlerweile hat es das Spiel auch auf die Empfehlungsliste für das „Spiel des Jahres 2012“ geschafft. Ein weiterer Pluspunkt des Spieles ist die außergewöhnliche Spielanleitung. Anstatt auf langweilige Textblöcke in Schwarz-Weiß zu setzen, wurden bei „Santa Cruz“ viele Bilder, Illustrationen und kleine Texthäppchen verwendet. Auch das dauert eben etwas länger als eine schlichte Anleitung.

Hochwertiger Spielejahrgang

Dagmar de Cassan, Vorsitzende der Spieleakademie, die seit zwölf Jahren den „Spiel der Spiele“-Preis vergibt, zeigt sich mit der derzeitigen Spielelandschaft durchwegs zufrieden. Sie beobachtet nicht nur einen „überdurchschnittlich qualitativ hochwertigen Jahrgang“, sondern generell eine gute Entwicklung in Richtung Qualität mit einem großen Augenmerk auf Familienspiele. „Es gibt einen einzigen wirklich bemerkbaren Trend, und das ist jener zum noch immer besseren Spiel.“ Zusätzlich entwickeln sich aber viele kleine Verlage für Expertenspiele, die auf komplexere, anspruchsvollere Spiele setzen. Mehr als 1000 Neuerscheinungen wurden heuer für den „Spiel der Spiele“-Preis und die „Spiele-Hits“ gesichtet, 14 Preise – in den Kategorien Kinder, Familien, Freunde und Experten – wurden vergeben.

Casasola Merkle erhofft sich durch den Preis mehr Aufmerksamkeit. Ganz ist es ihm noch nicht gelungen, von seiner Tätigkeit als Spieleautor zu leben. 10.000 Stück verkauft er im Schnitt. „Es hängt natürlich vom Aufwand ab, aber das ist eine Zahl, bei der man sagt, es hat sich gelohnt, ist aber noch kein großer Erfolg. Bei Spielen erhofft jeder einen Longseller.“ Denn dann hat man nicht nur mehr Zeit für die Entwicklung neuer Spiele, sondern auch für die „toten Momente“ im Alltag, die nicht selten zu den besten Ideen führen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.07.2012)

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