Seit 1000 Jahren Pokémon

Seit rund 30 Jahren erobern Mangas und Animes die westliche Unterhaltungswelt. Dabei ist die illustrierte Geschichtenerzählung eine jahrtausendealte Tradition Japans. Auftakt zu einem Streifzug durch die verspielte Kultur Japans.

Im Ueno Park, etwas nördlich des Stadtzentrums von Tokio, zwängen sie sich auf Papierrollen und in Bilderrahmen. Einige von ihnen gibt es schon seit mehreren Jahrhunderten, und trotzdem überraschen sie die Besucher immer wieder. „Look, mom! That man looks a bit like Ash“, flüstert ein pubertierender Amerikaner aufgeregt seiner Mutter zu. Das Porträt eines Mannes an der Wand ähnele ein bisschen seinem einstigen Helden Ash, der Hauptfigur aus der Anime-Serie „Pokémon“, die vor rund zehn Jahren die internationalen Fernsehprogramme für Jugendliche schwemmte. Der Junge, der sich eben noch zu langweilen schien, spaziert jetzt gespannt durch die Säle. Er macht sich einen Spaß daraus. In den nächsten Räumen wird er, auch dank seiner Vorstellungskraft, noch die Comic- und Zeichentrickfiguren „Akira“ und „Sailormoon“ wiedererkennen.

Das Porträt, in dem der Junge seinen Comichelden Ash wiedererkennen wollte, stammt vom japanischen Maler Watanabe Kazan, der darauf im 19.Jahrhundert den Gelehrten Takami Senseki in Robe und Kopfbedeckung gemalt hat. Die Ähnlichkeit zu einer „Pokémon“-Figur kann nur jemandem auffallen, der in Japans Comicszene vertieft ist. Aber ein Besuch im Nationalmuseum, dem ältesten Museum des Landes, scheint zu genügen, um zu sehen, dass die virtuellen Helden der heutigen Jugend historische Wurzeln haben. Comicartige Zeichnungen haben in Japan eine längere Geschichte als in den meisten anderen Orten der Welt und Protagonisten wie Ash, Sailormoon und Akira einen langen Stammbaum.

Seit über 1000 Jahren werden in Japan Geschichten durch auf Papier gezeichnete Bilder erzählt. Die traditionelle Malerei mit Tusche und feinen Pinseln, die durch die Heian-Kaiser ab dem achten Jahrhundert aus China importiert wurde, setzten die Japaner in sogenannte Emakimono um, Papierrollen, auf denen Schriftzeichen mit Zeichnungen kombiniert eine Handlung erzählen. Über Jahrhunderte wurden auf diese Weise Lebensläufe, politische Konflikte und Geschichten dokumentiert. So bedeutend sind die Emakimono in Japans Kultur, dass das Bildungsministerium gleich 38 solcher Werke zu „Nationalschätzen“ erklärt hat.

In ihrer Erscheinung und Technik, Grundrisse zuerst zu zeichnen und schließlich Innenflächen auszumalen, ähneln die Papierrollen den Mangas von heute. Auch die Lesart ist die gleiche geblieben. Emakimono lesen und rollen sich von rechts auf und werden gleichzeitig von links wieder zusammengerollt. Entsprechend blättert man Mangahefte, die Japaner heute millionenfach in den Supermärkten und Buchläden kaufen, von rechts nach links. Aber nicht alles ist gleich geblieben.

Ein auffälliger Unterschied ist die Farbe. Das bekannteste Emakimono-Werk, das Genji Monogatari, das um das Jahr 1000 verfasst wurde und zu den wichtigsten Literatur- und Kunstwerken Japans zählt, wird nicht zuletzt wegen seiner Farbenvielfalt bewundert. Wer aber ein Mangacomic kauft, findet meist nur verschiedene Graustufen. Ein Grund dafür sind Zeit und Geld: Anders als klassische Emakimonos, deren Fertigstellung ein langwierigerer Prozess war, werden Mangas heutzutage im Wochentakt gedruckt.

Im Gegensatz zu ihren weit entfernten Vorfahren sind die heutigen Zeichner daher Künstler und Fließbandarbeiter zugleich. Animes und Mangas sind denn längst ein großes Geschäft. Laut der japanischen Außenhandelskammer beläuft sich allein der Exportwert animierter Filme aus Japan, die alle Regionen der Welt erreichen, jährlich auf 20 Milliarden Euro, rund sechs Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung Österreichs. Noch beliebter sind die Filme und Comics in Japan selbst, wo jedes Kind mit Manga und Anime groß und manchmal auch alt wird. Durch TV-Serien, Kinofilme und Werbeeinnahmen nehmen die Anime-Hersteller in Japan über 200 Milliarden ein. Die gedruckten Mangas bringen durch Exporte zwar etwas weniger ein, verdienen aber im Inland rund das Doppelte der Anime-Branche. Denn als wahres Herzstück japanischer Geschichtenerzählung gilt noch immer das auf Papier gezeichnete Bild.

Der Boom des Mangas, in dem ein Held häufig episodisch Abenteuer meistert und dabei persönliche Entwicklungsprozesse durchlebt, hat nach dem Zweiten Weltkrieg begonnen. Historiker vermuten, dass die US-Besatzungstruppen und deren kulturelle Einflüsse mitentscheidend waren: Nicht nur adaptierte die japanische Gesellschaft die Szene aus den USA, wo Comics wie Captain America und Captain Future schon Klassiker waren. Durch die Boomjahre der Nachkriegszeit konnte sich Japan auch auf den Massenkonsum stützen, was Manga- und Anime-Produzenten viel Fantasie und Produktivität abverlangte. Mangas mussten nun für alle Zielgruppen gezeichnet werden. Je nach Alter, Geschlecht und Lebenssituation wurden Protagonisten und Geschichten entwickelt, die sich schließlich meist gut verkauften.

Heidi, Wicki, Biene Maja und Co.

Zu den erfolgreichsten Animes und Mangas gehören seither „Akira“, „Dragonball“, „One Piece“, „Neon Genesis Evangelion“ und eben „Pokémon“. So viel Ansehen erlangte die japanische Zeichentrick- und Comicindustrie mit der Zeit auch im Ausland, dass viele europäische Konzepte aus japanischer Feder entstanden. Folglich wurden die in Europa sehr beliebten Zeichentrickserien „Heidi“, „Wicki und die starken Männer“, „Biene Maja“ und auch „Nils Holgersson“ in Japan entwickelt.

Ein weiterer Unterschied zu den traditionellen Emakimono im Tokioter Nationalmuseum fällt dabei wiederholt auf. Die Figuren in Manga und Anime eint eine niedliche Note, die auch den miesesten Charakteren nie ganz vorenthalten bleibt. Der japanische Künstler Takashi Murakami, der selbst mit Manga-Charakteren arbeitet, vermutet auch hierfür einen Grund in der japanischen Geschichte. Der Fall der zwei Atombomben in Hiroshima und Nagasaki hätte das Volk so traumatisiert, dass es sein kriegerisches, männliches Nationalbewusstsein verlor. Durch die neue, gezeichnete Welt der Mangas und Animes sei zwar jedes realistisch mögliche und unmögliche Szenario denkbar, das Böse aber nur bedingt bedrohlich.

Das Porträt von Takami Senseki im Nationalmuseum von Tokio, wie auch die Menschen auf den Emakimonos, sieht anders aus. Gefährlich schaut der Gelehrte nicht drein, aber das Niedliche geht ihm ab. Womöglich dachte der pubertierende Junge im Museum deswegen, das Bild ähnele nur „ein bisschen“ seinem „Pokémon“-Krieger Ash. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.12.2012)

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