Von denen, die streben, die Welt zu ordnen

Eine Supermarktkette hat den elementaren Trieb in uns unterschätzt, gesammelte Dinge in die rechte Ordnung zu bringen: über die Faszination der Stickeralben.

Bei der Supermarktkette Spar herrscht gerade jene Freude, die stets mit einer gelungenen Werbeaktion einhergeht: Die sammelbaren Sticker, die in den Geschäften derzeit gratis verteilt werden, wenn der Einkauf einen bestimmten Wert überschreitet, finden reißenden Absatz bei den Kunden – und ihren Kindern. Tiermotive aus den Regenwäldern, unter die einzelne Garfield-Comics eingestreut sind, wollen in Sammelalben – sie gab es um 1,99 Euro in den Märkten – eingeklebt werden, bis darin jedes einzelne der über 200 Motive klebt.

Prinzipiell eine alte Idee – kauf etwas, und du bekommst gratis etwas zum Sammeln –, aber immer noch erfolgreich. Alle 350.000 Sammelalben, die Spar für die „Stickermania“ aufgelegt hat, sind mittlerweile ausverkauft. Spar-Sprecherin Nicole Berkmann: „Die Aktion hat unsere Erwartungen bei Weitem übertroffen. Wir haben mehr als die Hälfte der Kinder zwischen sieben und elf Jahren in Österreich – das sind zwischen 500.000 und 600.000 – als Zielgruppe angenommen und haben gedacht, dass das ohnehin zu hoch geschätzt ist. Jetzt zeigt sich, dass das noch zu wenig war.“

Spar hat damit einen der interessantesten Mechanismen unterschätzt, die in uns Menschen ticken: die Lust am Sammeln. Von Briefmarken über bloße Steine bis zu edlen Automobilen reicht die Palette der Dinge, die sich manche Menschen in Vielzahl zulegen und der Reihe nach anordnen. Aber wirklich in die Breite geht das Phänomen vor allem in Zeiten von Fußballmeisterschaften – in Form der weithin bekannten „Panini“-Hefte. Ab 10.April können begeisterte Sammler heuer wieder die Alben kaufen, in die dann Sticker aller Teilnehmer der Fußballweltmeisterschaft in Südafrika eingeklebt werden können – wenn man sie denn alle hat. Denn die mehr als 500 Sticker können nicht einzeln gekauft werden, sondern sind zufällig in Briefchen zu je fünf Stickern abgepackt, sodass es viel Geduld, Geld und Tauscharbeit bedarf, um ein Album voll zu bekommen.

Dabei ist Spar mit seiner Werbeaktion, die ebenfalls noch bis in den April läuft, wesentlich näher am Ursprung der Stickeralben als Panini. Denn die Idee, seinen Kunden bunte Bildchen zu schenken, um sie zum Wiederkommen zu animieren, stammt von einem Kaufhaus – dem „Le Bon Marché“, dem ersten seiner Art in Paris. 1870 war es Aristide Boucicaut, als Gründer und Besitzer des „Bon Marché“ einer der Pioniere der modernen Konsumgesellschaft, der massenweise Bilder drucken ließ, diese am Ende ihres Einkaufs seinen Kunden übergab– und so für massive Umsatzsteigerungen sorgte.

Eine Idee, die sich Ende des 19.Jahrhunderts in ganz Europa ausbreitete: Mit der Möglichkeit der Industrialisierung, Bilder in Massen und für alle leistbar herzustellen, griffen nach und nach viele Händler auf die Idee zurück, ihre Kunden mit Bilderserien an ihre Geschäfte oder Waren zu binden. Der nächste Entwicklungsschritt kam 1887, als der deutsche Schokoladenproduzent Stollwerck einerseits Automaten aufstellte, an denen Schokoladetafeln mit jeweils einem Sammelbild verkauft wurden, andererseits unter dem Titel „Stollwerck's Sammel-Album No.1“ ein Album feilbot, in dem 186 dieser Bilder eingeordnet werden konnten. Jedem dieser Bilder waren noch Textzeilen beigefügt, die Wissenswertes zu allerlei Themen mitteilten. Eine Bilderserie erklärte beispielsweise die unterschiedlichen Schiffstypen in der deutschen Kriegsmarine.

Diese Sammelbilder formten zusammen eine Art billiges Lexikon, das sich die Käufer der Stollwerck-Schokoladen in ihren Alben anlegen konnten. Später, mit der Verbreitung der Fotografie, gab es auch Versuche, mit den Sammelalben Propaganda zu betreiben: Die Nazis fügten Zigarettenpackungen etwa Bilderserien wie „Raubstaat England“ oder „Bilder aus dem Leben des Führers“ bei, um ihr Gedankengut zu transportieren.

Viel harmloser sind da natürlich die Sammelbilder von heute. Vordergründig geht es dabei vor allem um Fußball – wie bei Marktführer Panini, der seit 1961 Fußballstars in kleine Tütchen packt –, um Comic-Helden oder eben um Naturfotografie. Aber wer denkt, dass die meisten Menschen beim Anblick der brasilianischen Mannschaft, deren letztes Mitglied man soeben einkleben konnte, selig sind, irrt.

Die Suche nach Erfolgserlebnissen

Denn der Inhalt der Bilder ist tatsächlich nur zweitrangig. Für jeden Panini-Sammler, dessen Herz für den Fußball entflammt ist, gibt es einen, dem das Spiel kaum unwichtiger sein könnte. In Wirklichkeit geht es auch beim Bildersammeln darum, einem kleinen Teil der Welt Ordnung zu verleihen. „Jeder Mensch strebt danach, seine Umwelt bewältigen zu können. Das ist aber nur dann möglich, wenn man sich kleine Welten schafft, in denen man sich bewähren kann“, erklärt der Psychologe Dietrich Dörner von der Universität Bamberg.

Und die Erfolgserlebnisse in dieser kleinen, überschau- und bewältigbaren Welt zwischen den Seiten des Sammelalbums bestehen darin, eine Seite – oder gar das ganze Album – vollzukleben. Für die überwiegende Mehrheit der Sammler ist der Weg das Ziel: die fiebrige Vorfreude beim Aufreißen der Briefchen mit den Fußballstickern. Das hektische Überprüfen, welche der Bildchen man schon doppelt und dreifach hat. Das Tauschen mit anderen Sammlern, die ihrerseits ihre Doubletten loswerden möchten. „Wenn ein Sammler eine Serie vervollständigen kann, ist das ein Erfolgserlebnis, das alltägliche Niederlagen ausgleichen und die eigene Kompetenzbilanz ins rechte Lot bringen kann“, erklärt Psychologe Dörner.

Ein Mechanismus, den sich auch Spieldesigner zunutze machen. Denn auch bei Spielen aller Art geht es ja darum, ein von der sonstigen Welt abgekoppeltes System zu schaffen, mit eigenen Regeln und Wichtigkeiten: Der Arbeitslose kann beim Pokern dem Konzernchef überlegen sein, das Schulkind seine Eltern im Mensch-ärgere-dich-nicht besiegen, weil die Chancen auf bloßes Würfelglück reduziert werden. Wie beim Sammeln werden die normalen Regeln, nach denen wir Erfolge erleben können, außer Kraft gesetzt: Unter Sammlern und Spielern gelten andere Gesetze.

Diese Parallele tritt am stärksten bei Online-Rollenspielen vom Typus der World of Warcraft in Erscheinung: Weil der Produzent ja Monat für Monat dafür kassiert, den Spieler in seiner digitalen Onlinewelt Abenteuer erleben zu lassen, haben solche Spiele ein effektives Belohnungssystem eingebaut. Erfüllt die Spielfigur bestimmte Aufgaben, bekommt sie neue, schönere Ausrüstungsgegenstände zugelost, die sie stärker machen – was den Spieler wiederum animiert weiterzuspielen, um an weiteren Auslosungen noch besserer Gegenstände teilnehmen zu können. Bis irgendwann der beste Ausrüstungsgrad erreicht ist – und damit die tiefe Befriedigung des Sammlers, der wieder ein Stück eingeordnet hat. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.03.2010)

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