Beten für Putin

Der offiziellen Biografie nach ist Wladimir Putins Mutter 1998 gestorben. Wer aber ist dann jene gut 80-Jährige, die halb Georgien für Putins Mutter hält? Vera Putina: eine Begegnung.

Die dürre Frau an der Straße nach Gori schaufelt mit ihren Händen Brombeeren in einen alten Plastiksack. Sagt leise: „Nehmt, nehmt!“ Gerne. Der Tag ist heiß und staubig. Die Brombeeren sind süß und saftig. Als wir die Früchte gut bezahlen, bedankt sich die Georgierin überschwänglich. Während sie noch eine Handvoll dazu gibt, murmelt die Dörflerin beiläufig noch etwas. „Will sie uns einladen?“, raune ich meiner Übersetzerin zu. Rusca Mirzikaschwili schüttelt den Kopf, erwidert: „Nein! Sie will wissen, ob wir wegen Frau Putina hier sind. Sie soll die Mutter des russischen Machthabers sein!“ Wie bitte? Putin ist doch aus Petersburg. Nach und nach erfahren wir, Vera Putina sei Mitte der 1950er-Jahre wegen einer Liebesgeschichte mit ihrem kleinen Sohn von Leningrad nach Metechi gekommen. Die Leute im Dorf wüssten mehr, auch Nodari, der Pope.

Die Sandstraße führt durch Steppengras, Feldoasen, Obsthaine. Am Horizont ragt hinter verrosteten Industrieruinen ein für die alte Sakralarchitektur typischer Kuppeltambour hervor. Das muss der Kirchturm von Metechi sein. Lebt dort tatsächlich die Mutter jenes Mannes, dessen Befehle nach dem georgischen Hasard in Südossetien Bomben auf Gori, Poti und weitere Ziele hageln ließen?

Der Pope empfängt uns, hört freundlich zu, wiegt seufzend sein Haupt, spricht langsam: „Vera Putina ist weit über 80 Jahre alt und bei guter Gesundheit. Ab und zu wird sie von ihrer Tochter Sophia aus Tiflis besucht. Und das mit Wowa, das ist der Kosename für Wladimir, das ist so eine Sache. Gerade jetzt.“ Pope Nodari atmet schwer, lässt köstliche Feigen bringen. Stille. Nach einer Weile frage ich: „Wie war das mit dem ,gerade jetzt‘?“ Rusca zögert ehrfürchtig, erst mein fordernder Blick lässt sie übersetzen. Ein Seufzer durchfährt den massigen Körper. „Der Krieg hat Menschen, Tiere, Häuser, Bäume zerschossen und die Wahrheit auch. Russland hat die ganzen Jahre über in Ossetien mit terroristischen Milizionären provoziert. Und wir haben den mächtig gewordenen Wladimir Putin mit Amerika provoziert. Wir Georgier waren mit dem Angriff auf Tsinwali nicht gut beraten. Und Putins Kreml mit seinen Gräueln gegen unser kleines Land erst recht nicht.“

Der Pope ist wohltuend ausgewogen. Oft stehen im Georgien von heute die nationalen Ausrufezeichen hinter dem propagandistisch genährten Opfermythos: Putin ist ein Monster, Georgiens Präsident Saakaschwili ein geschlagener Held, der nun im Interesse des Westens gerettet werden muss. Im Internet kursieren untergriffigste Anti-Putin-Videos. Der Pope erzählt von Gerüchten, russische Soldaten seien nach Metechi gekommen, hätten das Haus von Vera Putina geplündert, alle Fotografien von früher vernichtet. Andere sagen, Vera Putina sei von wütenden Nachbarn bespuckt und geschlagen worden. Nodari schüttelt sein Haupt, sagt: „Wahr ist das alles nicht. Richtig ist, dass Vera Putina von Journalisten aus Tiflis bedrängt worden ist. Die sind sogar über ihren Gartenzaun gestiegen.“

20-Euro-Pensionen

Die Putina-Geschichte ist also bekannt. Aber warum wissen das meine georgischen Begleiter nicht? Später erfahre ich von einer Arte-Dokumentation über Putina, die 2004 lief. Danach wurde diskutiert, ob diese Frau tatsächlich die Mutter Wladimir Putins sei. Der Betroffene selbst hielt sich in der Causa lange bedeckt. Bestreitet jedoch, die Frau zu kennen. Auch wenn der Fall bekannt ist: Ich will zu Vera Putina. Frage, ob uns Pope Nodari bei Frau Putina einführen könnte. „Nein! Das haben Ihre Kollegen unmöglich gemacht“, seufzt der Geistliche, „aber gehen Sie zu den Gzirischwilis, die sind mit Vera Putina befreundet. Dali soll mit Wowa in derselben Klasse gewesen sein.“ Wir rollen an grob geschmiedeten Zäunen, Eisentoren die Dorfstraße entlang. Nichts deutet auf die jüngste Dramatik hin. Es wehen keine weißen Fahnen mit den roten georgischen Kreuzen, keine Transparente mit „Stop Putin! Save Misha!“ wie sonst überall in den Städten. Nach den Gzirischwilis befragt, deuten Kinder geradeaus. Und das Haus von Vera Putina? Da links! Es ist mit Wellblech gedeckt, schmuck. Im blühenden Garten bellt ein Hund. Die Kinder haben die alte Frau mit ihrer Tochter im Obstgarten gesehen. Dort ist auch Gzirischwili. Geradeaus also! Die Häuserzeilen enden. Brombeer- und Haselnusssträucher wechseln mit Weiden- und Obsthainen ab. Der Boden ernährt die Menschen. An ihren 20-Euro-Pensionen würden sie bei den hohen Preisen verhungern.

Plötzlich gestikuliert vorne rechts, an einem Nussbaum, eine Frau mittleren Alters. Schreit, rennt auf uns zu. Eine Alte verschwindet in den Büschen, der Mann in der Gruppe bleibt stehen. Ich gehe mit der Übersetzerin der Schreienden entgegen. Es ist Sophia Putina, die Tochter aus Tiflis. Die Zierliche ist außer sich, lässt sich nicht beruhigen. Nichts hilft. Innerhalb von wenigen Minuten sind Mutter und Tochter Putina verschwunden.

War es das? Nein. Da ist ja noch der Bauer, der uns unter seiner schwarzen Schirmmütze stumm anschaut. Es ist Arto Gzirischwili, der ältere Bruder der besagten Klassenkameradin. Nach und nach kommen wir ins Gespräch. Füttern gemeinsam seinen Esel, werden mit frischen Zwetschken und Brombeeren beschenkt: „Natürlich hat es auch die Vera mit der Angst zu tun bekommen, wie die russischen Bomber über unsere Häuser gedonnert sind. Hätte ja sein können, dass Wowa die vielen Schläge, die er vom Mann der Vera als Bub eingesteckt hat, jetzt vom Himmel prasseln lässt. Das hat er aber nicht getan. Dafür ist sonst viel Blut geflossen.“ Während Rusca übersetzt, steckt sich der Alte saftige Früchte in den eingefallenen Mund. Für ihn ist klar: Aus dem schmächtigen Wowa der Vera Putina ist der starke Mann im Kreml geworden. Arto Gzirischwili war ein Halbwüchsiger, als der ledige, nicht sehr wohlgelittene Nachbar doch noch eine Frau bekam. Und den kleinen Buben dazu. „Wann das war? Zwei, drei Jahre nach dem Tod des Genossen Stalin. Also 1955 oder 1956“, nuschelt der 67-Jährige. „Es gibt ja Fotografien von damals. Sophia, die eher nach ihrem Vater kommt, hat diese Fotos.“

Der aktuelle Lebenslauf des russischen Ministerpräsidenten besagt aber, Putins Eltern, Wladimir Spiridonowitsch und Maria Iwanowa, hätten 1928 geheiratet. Da war Vera Putina fünf Jahre alt. Stimmen die Angaben des Lebenslaufes, wäre die Ehe bis zur Geburt des ersten Kindes fast ein Jahrzehnt kinderlos geblieben. Und Mutter Maria hätte Wladimir Putin im Oktober 1952 erst als 46-Jährige geboren. Diese Frau soll 1998 in Petersburg an Krebs gestorben sein. Das ist merkwürdig, zumal der KGB-Agent Putin Jahre zuvor angab, er habe seine Eltern als Kleinkind verloren, sei als Waise aufgewachsen. Der Geheimdienst holte sich seinen Nachwuchs gerne aus den Waisenhäusern. Rätselhaft.

Bauer Gzirischwili vermutet einiges, will aber nichts sagen. Wir sollten darüber lieber mit seiner Schwester Dali reden, die ist ja mit dem Wowa zur Schule gegangen. Die resolute 56-Jährige erwartet uns schon mit einem Buch in der Hand. Legt Schwarz-Weiß-Abdrucke von Wladimir Putin vor: den dreijährigen Wowa, als er nach Metechi gekommen ist, den Zwölfjährigen, der unverkennbar Wladimir Putin ist. Auf einem Gruppenfoto zeigt Dali Gzirischwili auf Personen, die sie als Wowa, seinen Stiefvater, Vera, Sophia und deren zwei jüngere Schwestern vorstellt. Die Originale von diesen und anderen Fotos habe Sophia Putina. Wie war der Klassenkamerad? „Er war ein blondes, zartes Kerlchen. Sehr schüchtern und misstrauisch. Es hat lange gedauert, bis Wowa einem etwas erzählt hat. Sein Georgisch war ja anfangs nicht so gut.“ Fotos von Dali und Wowa wären wertvoll. Gibt es die? Die Frau nickt, aber die seien eben bei Sophia in Tiflis. Machen uns die Leute ein X für ein U vor? Aber warum sollten sie? Es gibt weder Geld noch Filmrechte für sie. Wir stehlen nur ihre Zeit.

Stalin im Schlafzimmer

Ich frage, warum Wladimir Putin seine Mutter, Metechi, Jahre seiner Kindheit verleugnen sollte? Dali Gzirischwili zögert keine Sekunde: „Das ist einfach zu erklären. Georgien galt lange als Stalins letzte Festung. Stalin wurde ja hier in Gori geboren. Das war in den Zeiten der Entstalinisierung Gift für jede Parteikarriere. Überhaupt wenn man KGB-Agent werden wollte. Und Veras Mann, Putins Stiefvater, hat den Genossen Stalin bis zu seinem Tod im Schlafzimmer hängen gehabt.“ Die Frau schenkt mir Wasser nach. Lächelt. Aber gerade das Vorleben von KGB-Agenten wurde auf Herz und Nieren durchleuchtet. Wie soll das gegangen sein? Andererseits: Auch Michail Gorbatschow soll so eine verworrene Familiengeschichte haben. Könnte uns Dali einen Gefallen tun? Die Frau zieht die Augenbrauen hoch, sagt nur: „Sophia!“ Ja, ich weiß, aber vielleicht kann Dali einen Anruf zwischen Freunden riskieren. Dali Gzirischwili ruft nach ihrem Sohn Georgi, er solle das Telefon bringen. Dann die Überraschung: „Sie gibt euch zehn Minuten.“

Vera Putina kommt an das Gartentor. Wir stecken eine Kürbis-Marzipan-Schokolade durch das Gitter. Die Greisin lächelt, macht das Tor auf. Wir entschuldigen uns für die unabsichtlich zugefügte Aufregung. Was möchte Vera Putina ihrem Sohn sagen, fragen wir. Die kleine Gestalt hebt ihren Kopf: „Zuerst will ich ihm sagen, dass er Gott dankbar sein soll, dass er aus ihm einen so mächtigen Mann gemacht hat. Und dass er diesen Gott für das vergossene Blut um Verzeihung bitten soll. Russland hat Georgien immer beschützt. Das soll auch so bleiben, gerade jetzt, wo er, mein Sohn, Russland wieder so stark gemacht hat! Dann wünsche ich meinem Wowa, seiner Ludmilla, den beiden Töchtern, meinen Enkelkindern, Gesundheit und Gottes Segen! Ich bete jeden Tag für sie.“

Die Mundwinkel der alten Frau beginnen zu zucken. Sie knickt zwei Dahlien ab, gibt sie uns. Ich will sie nicht mehr fragen, wie und warum der zwölfjährige Wladimir von Metechi zurück nach Petersburg gekommen ist. Es ist genug. Kann das alles wahr sein? Auf der Rückfahrt sagt Rusca: „Diese Geschichte ist erst vollständig, wenn du Putin befragt hast. Das solltest du tun.“ Stimmt. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.09.2008)

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