Der Nase falsches Zeugnis

Charles Darwins fünfjährige Reise auf dem Vermessungsschiff HMS Beagle wäre fast nicht zustande gekommen. Über Kapitän FitzRoy, Lavater und eine Fahrt, die unsere Welt veränderte.

Die Einladung verschlägt ihm den Atem. Als der Student Charles Darwin am 29. August des Jahres 1831 von einer geologischen Exkursion in Nordwales nach Hause zurückkehrt, erwartet ihn auf dem Familiensitz „The Mount“ bei Shrewsbury eine Nachricht seines Professors aus Cambridge. Darwin könne als unbezahlter Naturwissenschaftler an einer auf zwei Jahre angelegten Reise um die Welt teilnehmen. Von einem Schiff der englischen Admiralität aus würden ausgedehnte Vermessungsarbeiten an Küsten und Inseln durchgeführt, um durch genaue Seekarten den Handel mit Ländern der südlichen Hemisphäre voranzutreiben. Ein Naturforscher und Gentleman werde gesucht, nicht nur als wissenschaftlicher Begleiter der Expedition, sondern auch als standesgemäße Gesellschaft für den jungen Kapitän, der kürzlich die Einsamkeit langer Fahrten fürchten gelernt hatte.


Charles ist sofort entschlossen, das Angebot anzunehmen, aber sein Vater ist gegen diese Reise. Robert Darwin, ein angesehener Arzt, erfolgreicher Großaktionär und Sohn des bekannten Naturwissenschaftlers Erasmus Darwin, sorgt sich um Charles. Dem Sohn fehlte es an Ehrgeiz, wenn er tatsächlich das Angebot annimmt und jahrelang um die Welt segelt, würde er als dilettantischer Nichtsnutz enden! Hat er nicht das Medizinstudium in Edinburgh nach zwei Jahren abgebrochen, weil er kein Blut sehen kann? Das Theologiestudium in Cambridge hat er zwar abgeschlossen, aber nur, weil er als Landpfarrer ausreichend Zeit für seine vielfältigen naturwissenschaftlichen Interessen zu haben glaubt. Charles' große Leidenschaft gehört dem Sammeln von Käfern, und er liebt die Jagd und das Schießen so sehr, dass nachts die Jagdstiefel zum Anziehen fertig neben dem Bett stehen, damit er morgens gleich mit seinen Kumpanen losziehen kann.


Was dem Vater als mangelnde Zielstrebigkeit erscheint, wird sich aber bald als entscheidende Voraussetzung für die Bewältigung der anspruchsvollen Reise erweisen. Denn Charles hat in den Jahren in Cambridge zahlreiche naturkundliche Lehrveranstaltungen besucht, an Exkursionen teilgenommen, ist Mitglied mehrerer wissenschaftlicher Gesellschaften und steht in regem Austausch mit Professoren unterschiedlicher Disziplinen. Also stellt der Vater eine Bedingung „Wenn du auch nur einen Mann mit gesundem Menschenverstand findest, der dir rät mitzufahren, dann werde ich meine Zustimmung geben.“ Als Charles daraufhin das Angebot der Reise schweren Herzens ablehnt, kommt ihm sein Onkel und spätere Schwiegervater, der Porzellanmagnat Josiah Wedgwood II., zu Hilfe. Er findet eine Reihe kluger Argumente, die den Vater schließlich überzeugen.
Als letzte Hürde bleibt das Treffen mit dem Kapitän der Reise: Robert FitzRoy ist nur vier Jahre älter als Charles und stammt aus adeliger Familie. Um ein Haar wäre aber die bedeutendste Forschungsreise der Wissenschaftsgeschichte in diesem Moment gescheitert. FitzRoy ist ein glühender Anhänger des Schweizer Theologen Johann Kaspar Lavater und seiner Theorie der Charakterdeutung aus der Physiognomie. Die Form von Darwins Nase lässt für ihn Zweifel an dessen Energie und Entschlossenheit aufkommen, aber „im Nachhinein konnte er sich beruhigt sagen, dass meine Nase ein falsches Zeugnis abgelegt hatte“, schreibt Darwin in seinen Lebenserinnerungen.


Gemeinsam besichtigen Darwin und FitzRoy auf der Werft von Devonport das Schiff, das zur Generalüberholung aller Planken und Masten entkleidet ist. Die HMS Beagle ist klein, nur 27 Meter lang und sieben Meter breit. Im November soll sie zum Auslaufen fertig sein, ausgerüstet mit modernsten Geräten wie den erst kürzlich entwickelten Blitzableitern. Die Beagle befindet sich im Besitz der englischen Admiralität, ein ehemaliges Kriegsschiff, das zum Forschungsschiff umgebaut wurde, mit leichterer Takelage und nur sechs statt zuvor zehn Kanonen an Bord: Für Darwin bleibt sie aber immer die „ten-gun-brigg“. In der Werft muss vor der Reise eines der Beiboote ersetzt werden, das auf der ersten Vermessungsfahrt, 1829, in Feuerland für einen Landausflug genutzt, von Ureinwohnern gestohlen wurde. FitzRoy hatte damals Feuerländer als Geiseln genommen und nach England gebracht, um sie dort auf seine Kosten erziehen zu lassen. Nun muss er die drei wieder in ihre Heimat zurückbringen. Neben der Durchführung der Vermessungsarbeiten ist dies der zweite wichtige Grund für die Reise der Beagle, ohne die Charles Darwin vielleicht ein Landpfarrer geworden wäre, der in seiner Freizeit Käfer und Steine sammelt.


Am 24. Oktober 1831 fährt Charles mit seinem umfangreichen Gepäck nach Devonport. Mit diesem ersten Tag der Reise, beginnt er ein Tagebuch zu führen und behält diese Gewohnheit sein Leben lang bei. Anfangs notiert er nur kurz die Ereignisse des Tages, er entwickelt im Lauf der Zeit seinen eigenen, oft ironisch witzigen Stil und geht immer detailreicher auf seine Beobachtungen ein. Er legt Notizbücher an, in denen er alles aufschreibt, was ihm bemerkenswert erscheint.
Darwin bezieht gemeinsam mit einem Hilfsvermesser und einem Kadetten eine drei mal drei Meter große Kabine, die ein Kartentisch fast völlig ausfüllt. Über dem Tisch sind zwei Hängematten angebracht, eine davon ist Charles' Nachtquartier. Seine Habseligkeiten verstaut er in Schubladen. „Ging an Bord und kehrte wegen der bekannten Platzangst in Panik zurück“, notiert er. Mehr als 1,80 Meter groß und ein Leben in Luxus gewohnt, stellt er sich dennoch schnell auf die Enge ein.

Winterstürme, Ängste, Zweifel


Seit Ende Oktober ist Darwin an Bord der Beagle, aber erst einen Monat später ist das Schiff zur Abfahrt bereit, und es vergeht ein weiterer Monat, ehe es England tatsächlich verlässt. Während dieser Zeit bedrängen den jungen Naturforscher Ängste und Zweifel, wie es wohl sein würde, auf unbekannte Zeit von seiner Familie und allen Freunden getrennt zu sein und mit dem kleinen Schiff eine derart weite Reise über alle Ozeane zu unternehmen. Während zweier missglückter Versuche der Beagle, in den schweren Winterstürmen auszulaufen, muss er überdies erkennen, dass er unter starker Seekrankheit leidet, die sich auch mit der Dauer der Fahrt nicht bessert. Er wird auf der ganzen Reise schwer darunter zu leiden haben.


Die Route der Beagle ist auf die Vermessungsaufgaben des Kapitäns abgestimmt. Wo immer das Schiff ankert, geht Darwin an Land, um die geologischen Formationen zu erforschen. Auch Flora und Fauna der unbekannten Regionen soll er beschreiben und so viele „Lebewesen aller Klassen“ wie nur möglich nach Hause bringen. Dank der großzügigen finanziellen Unterstützung seines Vaters kann er bei Bedarf kleine Expeditionen ausrüsten. Auf diesen Exkursionen an Land ist Darwin von robuster Gesundheit. Lange Fußmärsche, wochenlange Ritte, gefährliche Flussfahrten mit kleinen Booten, Wind und Wetter, all das verkraftet er problemlos. Er genießt die fremden landschaftlichen Schönheiten und freut sich über die exotische Tierwelt. In seinem Reisebericht kann man nachlesen, dass er wie ein Kind mit Tintenfischen oder auch mit den berühmt gewordenen Schildkröten auf Galapagos spielt. Nur ein einziges Mal ist er in den fünf Jahren der Reise länger krank und wird von Freunden an Land gesund gepflegt.


An Teneriffa vorbei segelt die Beagle zum Kapverdischen Archipel, von dort an die Ostküste Brasiliens, die Küste entlang, nach einem Abstecher auf die Falklandinseln, umfährt sie Feuerland und Patagonien Richtung Norden. Auf der Höhe von Lima erreicht sie die Galapagosinseln, über Tahiti, nach Neuseeland und Australien, gelangt sie nach Südafrika ans Kap der Guten Hoffnung und noch einmal über die Nordküste Südamerikas zurück nach England, wo sie am 2. Oktober 1837 vor Anker geht.
An Bord hat sich bald nach der Abreise eine tägliche Routine entwickelt, die alle Beteiligten nach Möglichkeit einhalten: drei einfache Mahlzeiten – um 8 um 13 und um 17 Uhr – nimmt Darwin mit Kapitän FitzRoy ein. Dann muss alles, was er mit seinem Gehilfen an Land erlegt, eingesammelt, gepflückt und aufgelesen hat, entsprechend präpariert, beschriftet und verpackt werden. Auf sich allein gestellt, hat er seine Sammeltätigkeit zu organisieren und zu überdenken. Viele Schlüsse wird er erst nach seiner Rückkehr mit Hilfe von Experten ziehen, aber jetzt muss er allein die Gedankenarbeit leisten.
Tausende Fossilien, Tierskelette
Darwins Sammlerfleiß führt zu ungeheuren Materialmengen: Tausende Steine, Fossilien, Tierskelette in allen Größen, Bälge, Felle, Insekten, Muscheln, eingelegte Meerestiere, getrocknete Pflanzen sind auf dem engen Schiff verteilt. Aber wo immer die Beagle eine Station der Admiralität erreicht, kann Darwin ihre Einrichtungen nutzen. Er empfängt Post aus der Heimat, Briefe und die aktuellen wissenschaftlichen Publikationen. Seinerseits kann er seine Funde zu einem sachgemäßen Transport nach England übergeben. Teile seiner Tagebücher verwendet er als Briefe und liefert auf diese Weise Berichte über seine Entdeckungen.


Was Darwin zur Zeit der Reise nicht weiß: Sein Mentor, John Steven Henslow, öffnet in Cambridge sofort nach ihrem Eintreffen alle Kisten und Kästen und überprüft, ob weitere Konservierungsmaßnahmen nötig sind. Er macht die sensationellen Funde bekannt, indem er Auszüge aus den Briefen veröffentlicht. Bei seiner Heimkehr ist Darwin bereits ein bekannter Mann, sein beruflicher Weg ist vorgezeichnet.


Als die bedeutendsten Errungenschaften dieser großen Reise bezeichnet Charles Darwin selbst nicht die vielen gewonnenen Einzelerkenntnisse, sondern „den energische Fleiß“ und „die konzentrierte Aufmerksamkeit“, die ihm bei seinen Arbeiten zur Gewohnheit wird. Alles, was er im Kopf bewegt oder liest, wird in unmittelbare Beziehung zu dem gebracht, was er gesehen hat: „Ich bin sicher, dass ich alles, was ich in der Wissenschaft geleistet haben mag, dieser Schulung verdanke.“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.01.2009)

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