Wessen Hand war das?

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Geld kann arbeiten, und wie! Das sehen wir erst jetzt so recht. – Zur großen Krise. Und ihrem gesellschaftlichen Kontext.

Beim Versuch, das Heranwachsen der neuen Weltwirtschaftskrise in seinen ideologischen, politischen und historischen Kontext zu stellen, kam mir folgendes Bild in den Sinn: Eine riesige Prozession schreitet eine Straße entlang, der „Weg zur Freiheit“. Vorangetragen wird eine Monstranz, in ihr befindet sich – naturgemäß verborgen – die „unsichtbare Hand des Marktes“. Die Eliten der Gesellschaft folgen dem Zug geschlossen. Vorneweg die Kardinäle der Zentralbanken, als irdische Sachwalter der „unsichtbaren Hand“ hüten sie ihr wichtigstes Medium, das Geld und seinen Wert. Dahinter schreitet die ökonomische Geistlichkeit, beginnend mit den Nobelpreisträgern und „Großprofessoren“, bis hinunter zu den Pfarrern der (Universitäts-)Institute und den Kaplänen in der EU-Kommission, der OECD oder nationaler Ministerien. Machtvoll erschallt der Choral der Banker und Finanzberater: „Lasset euer Geldarbeiten!“ Danach kommen die Übersetzer der Offenbarungen des freien Markts aus Zeitung, Funk und Fernsehen. Auch die führenden Politiker folgen dem Zug, die Konservativen schreiten in gewohntem Trott, die Sozialdemokraten drängeln sogar an die Spitze, von Reformeifer beflügelt. Endlich haben auch sie kapiert: Es gibt keinen anderen Weg. Ein paar Häretiker begleiten den Zug (von großen Nobelpreisträgern bis zu kleinenWirtschaftsforschern) –sie wollen ihn aufhalten und müssen daher mitgehen (und sich wichtig machen). Ihr Gemeckere ist Teil der Prozession geworden, ohne sie wirksam zu stören. Denn der Zug der Zeit istschon so groß, dass allein sein (Denk-)Trägheitsmoment den Fort-Schritt garantiert.

Am Anfang der Bewegung – vor gut 40 Jahren – war dies ganz anders gewesen; damals schritten die Eliten auf dem „Weg zurKnechtschaft“ voran: Die Theorien von John M. Keynes hatten den Glauben an die „unsichtbare Hand“ als ökonomisches Universalprinzip zersetzt, dementsprechend wurden nur die Gütermärkte liberalisiert, die Finanzmärkte aber in Unfreiheit gehalten. Der Sozialstaat entzog wichtige Lebensbereiche wie Bildung, Gesundheit, Arbeit, Altersvorsorge dem Walten der „unsichtbaren Hand“, anhaltende Vollbeschäftigung machte die Gewerkschaften unverschämt, Intellektuelle in den Medien sympathisierten mit linkem Gedankengut, Studenten- und Ökologiebewegung nahmen den Kapitalismus „im Ganzen“ ins Visier, der Aufstieg der Sozialdemokratie schien unaufhaltsam. Kurz, Ende der 1960er-Jahre war das „Reich der Knechtschaft“ nicht mehr fern.

Es waren wenige aufrecht Gebliebene, welche zur Umkehr aufriefen und den „Weg zur Freiheit“ predigten. Vorreiter waren Milton Friedmans „Schule von Chicago“ und Friedrich A. von Hayeks Zweig der österreichischen Schule. Ihre Hauptforderung: Befreiung der Finanzmärkte. Zunächst wurde der Devisenmarkt ent-fesselt, das System fester Wechselkurse („Bretton Woods“) also aufgegeben (1971). Darauf verlor der Dollar 25 Prozent seines Werts, dies erhöhte den Anreiz für Rohstoffproduzenten, die Dollarpreise ihrer Produkte zu erhöhen und trug so zum ersten „Ölpreisschock“ bei (1973). Folge: Inflationsbeschleunigung und Rezession.

Diese Konstellation nützten die Marktgläubigen zur „Widerlegung“ des Keynesianismus: Man könne eben nicht durch mehr Inflation niedrigere Arbeitslosigkeit erkaufen.Solches hatten (manche)Keynesianer behauptet,allerdings nur für eine geschlossene Wirtschaft;der Inflationsschub war indes international bedingt, nämlich vorange-trieben durch den Boom der Rohstoffpreise. Diesen hatten die Dollarentwertungen der freien Devisenmärkte und damit indirekt die Neoliberalen selbst mit verursacht. Ein solcher „Wechselschritt“ – erst ein Problem fördern und es dann als Beweis für die Überlegenheit der „unsichtbaren Hand“ ausnützen – wird die Prozession auch in den folgenden Jahrzehnten vorantreiben.

Der Trick mit dem „Wechselschritt“ wurde nicht durchschaut, viele konvertierten und reihten sich ein in den Zug, besonders die Professoren der Ökonomie. Nachdem die „unsichtbare Hand“ den Dollar nochmals um 25 Prozent entwertet hatte, kam es zum zweiten „Ölpreisschock“ (1979). Den Inflationsschub werteten die Marktgläubigen in bewährtem „Wechselschritt“ zur Durchsetzung einer alten Forderung aus: Die Notenbanken sollten das Zinsniveau nicht weiter „künstlich“ niedrig halten (drei Jahrzehnte war es unter der Wachstumsrate gelegen).

Die Hochzinspolitik verursachte gemeinsam mit dem „Ölpreisschock“ die (bisher) längste Rezession der Nachkriegszeit (1980 bis 1982). Der drastische Anstieg der Arbeitslosigkeit schwächte die Macht der Gewerkschaften nachhaltig. Damit wurde einewichtige Barriere auf dem „Weg zur Freiheit“ beseitigt – Hayek hatte ihre Ausschaltung für unabdingbar erklärt, seine Gefolgsleute Thatcher und Reagan setzten dies energisch um. Überdies trug die hohe Arbeitslosigkeit dazu bei, dass die Lohnquote seit Anfang der 1980er-Jahre in allen Industrieländern nahezu permanent sank. Immer mehr Unternehmer und Unternehmervertreter schlossen sich der Prozession an.

Auf die Ent-Fesselung der Finanzmärkte folgte in den 1980er-Jahren ihre massive Belebung. Es wurden immer mehr Finanzinnovationen (Derivate) geschaffen, welche (kurzfristige) Spekulation förderten. Gleichzeitig wurde die Altersvorsorge in den USA – und später in anderen Ländern – auf Kapitaldeckung umgestellt. Der Aktienmarkt begann zu boomen, bis Ende der 1990er-Jahre stiegen die Kurse auf mehr als das Zehnfache. Gleichzeitig destabilisierte kurzfristige Spekulation die Wechselkurse und Rohstoffpreise. Unter diesen Bedingungen verlagerten (große) Unternehmen ihre Investitionen von Real- zu Finanzveranlagung, das Wirtschaftswachstum blieb schwach, Arbeitslosigkeit sowie Staatsverschuldung stiegen weiter.

Zu Beginn der 1990er zogen die USA eine pragmatische Konsequenz: Die Geld- und Fiskalpolitik wird seither antizyklisch gestaltet (unter strikter Vermeidung des Begriffs „keynesianisch“), die „unsichtbare Hand“ wird nur mehr in den Sonntagsreden verehrt, unter der Woche interveniert die Politik nach Bedarf. In Europa zogen die ökonomischen Geistesgrößen die gegenteiligeKonsequenz: Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung wurden als Beweis für die Notwendigkeit weiterer Schritte auf dem „Weg der Freiheit“ verwertet: Sparpolitik, Abbau des Sozialstaats, Deregulierung der Märkte (insbesondere des Arbeitsmarkts) und Regelbindung der Politik (Maastricht-Kriterien, Statut der EZB).

Der neoliberale „Wechselschritt“ gelang perfekt. Die Eliten von den Wirtschaftsredaktionen bis zur EU-Kommission reihten sich ein in die Freiheitsprozession, angesichts ihres Anschwellens gesellten sich schließlich auch die führenden Köpfe der Sozialdemokratie dazu. Sie wollten sich nicht als (neo-)liberal beschimpfen lassen und nannten sich „Reformer“.

In den folgenden 15 Jahren blieb dasWirtschaftswachstum in Europa erstmals in der Nachkriegszeit markant niedriger als in den USA, die Arbeitslosigkeit stieg und konnte nur durch Schaffung von immer mehr „atypischen“ Jobs gemildert werden. Auch in allen anderen Kernbereichen des Sozialstaats trieben die Eliten die „Selbstzerstörung des europäischen Sozialmodells“ voran, von der Altersvorsorge über das Bildungswesen bis zur Krankenversicherung. So prägte Harmonie zwischen konkreter Politik und allgemeinem Glaubensfundament die Freiheitsprozession: Vorrang für den Einzelnen, für seine Eigenverantwortung, für Konkurrenz auf deregulierten Märkten und gegen die Entmündigung durch den Sozialstaat – all dies stand auf den Transparenten zu lesen.

Gestärkt wurde der Zulauf durch die Wissenschaft. Ihr gelang es, Modelle zu entwickeln, welche die Überlegenheit von Marktlösungen gegenüber der Politik bewiesen. Die Ökonomen orientierten sich dabei an der Methodik der Theologie und ihrer Gottesbeweise: Da wie dort wird das Ergebnis schon in den Modellannahmen vorweggenommen, doch sind die Gedankengänge innerhalb des Modells so kunstfertig konstruiert, dass der Zirkelschluss verborgen bleibt. Für die besten Modelle gab es Nobelpreise, und das erhöhte rückwirkend ihren Wahrheitsgehalt.

Um einem Rückfall in die „Knechtschaft des Sozialstaats“ vorzubeugen, schmälerte man seine Finanzierungsbasis in bewährtem „Wechselschritt“: Zuerst wurden Steuern gesenkt, besonders für die Vermögenden, das resultierende Budgetdefizit konsolidierte man durch Kürzung der Sozialleistungen. Am Ende hatten die „Leistungsträger“ mehr Geld in ihrer Tasche, die anderen wurden mit höheren „Leistungsanreizen“ entschädigt, ihre „soziale Hängematte“ trug immer weniger.

Die Marktreligiosität der Eliten förderte naturgemäß die Expansion der freiesten aller Märkte, der Finanzmärkte. Dem half die Politik nach: Börsenumsatzsteuern wurden abgeschafft, die Expansion der freiesten aller Spieler, der Hedge-Fonds, wurde wohlwollend bestaunt, und dann realisierte man auch in Europa die Königsidee, die staatliche Förderung der kapitalgedeckten Altersvorsorge. Statt die Aktiven mit Pensionsbeiträgen für die Alten zu belasten, sollte der Einzelne für sich selbst sorgen, dafür würden ihn die Börsen mit hohen Renditen belohnen. Pensionsexperten gaben ihren Segen, die Empirie der vergangenen 100Jahre habe ja gezeigt: Aktienrenditen sind langfristig höher als die Wachstumsrate des Sozialprodukts. Und siehe da – die Wirklichkeitübertraf die kühnsten Träume der Reformer: Nachdem die Aktienkurse schon in den 1990er-Jahren um fast 20 Prozent pro Jahr gestiegen waren, legten sie – nach einer bedauerlichen „Korrektur“ – zwischen 2003 und 2007 noch stärker zu und wuchsen um fast 40 Prozent pro Jahr! Geld kann also arbeiten, und wie! Auf ähnliche Weise machten die Immobilienmärkte die Hausbesitzer immer reicher, ab 2005 gesellten sich die Rohstoffmärkte dazu. Die wunderbare Vermögensmehrung zeigte, wozu die „unsichtbare Hand der (Finanz-)Märkte“ imstande ist, wenn man sie nur in Freiheit walten lässt. Hoch gestimmt schritt der Freiheitszug voran, während die „unsichtbare Hand“ das Potenzial für den Zusammenbruch der Aktien-, Immobilien- und Rohstoffpreise stetig vergrößerte.

Dass die Kreation von Bewertungsgewinnen selbst Folge der allumfassenden Marktreligiosität war, etwa in Gestalt der Förderung der kapitalgedeckten Altersvorsorge, innovativer Finanzierungstechniken (wie „mortgage backed securities“) oder zunehmender Spekulation durch „Finanzinvestoren“, das konnten die Prozessionsteilnehmer nicht in Erwägung ziehen. Für Religiöse gibt es ja nur eine Richtung der Kausalität – wird der Gedanke „Der Mensch hat Gott erschaffen“ in Erwägung gezogen, hört sich Religiosität bald auf.

Das durch Vermögensaufwertung „arbeitende Geld“ ließ auch die Realwirtschaft am Boom teilhaben: Die Erwartung steigender Immobilienpreise beflügelte die Kreditvergabe an „Häuslbauer“ und damit die Bauwirtschaft. Der Boom der Aktienkurse machte den Konsum zumWachstumsmotor. Beide Effekte waren in denUSA am stärksten ausgeprägt, ihre boomenden Importe ließen auch andere Länder an der Wunderwirtschaft teilhaben.Der dritte Preisboom,jener der Rohstoffpreise, hatte widersprüchlicheEffekte: Einerseits stimulierte er die Importnachfrage der Produzentenländer und damit auch die Produktion in den Industrieländern, andererseits hatten Letztere die höheren Kosten zu bezahlen (der Preisboom von Aktien und Immobilien machte hingegen ihre Besitzer reicher und niemanden ärmer – wunderbar).

Anfang 2007 setzte die „Schubumkehr“ in der Vermögensbewertung ein: Die Immobilienpreise begannen in den USA zu fallen, immer mehr „Häuslbauer“ konnten ihreKredite nicht mehr bezahlen, die Zwangsversteigerungen drückten die Preise weiter, Mitte 2007 brach die Kreditkrise in den USA aus und breitete sich auf andere Länder aus, da diese massenweise „mortgage backed securities“ gekauft hatten. Damit begannen auch die Aktienkurse weltweit zu sinken, doch die Ökonomen im Freiheitszuge blieben unbekümmert: Noch im Frühjahr 2008 schlossen sie für Europa eine Rezession aus.

Nach dem Ausbruch der Kreditkrise im Sommer 2007 ließen Hedge-Fonds und Banken wie Goldman Sachs, Morgan Stanley oder die Deutsche Bank ihr Geld zunehmend auf den Märkten für Rohstoffderivate „arbeiten“, nämlich durch Spekulation auf weiter steigende Preise. Bis Mitte 2008 stiegen die Rohstoffpreise auf das Doppelte (die „Großökonomen“ erklärten dies als unvermeidliche Folge effizienter Märkte), die Inflation beschleunigte sich, und die Konjunktur begann einzubrechen.

Damit war der jahrelange „Aufbau“ des Potenzials für die neue Weltwirtschaftskrise abgeschlossen. Seit Mitte 2008 verfallen gleichzeitig Immobilienpreise, Aktienkurse und Rohstoffpreise, und zwar in einem viel rascheren Tempo als nach dem Schwarzen Freitag im Oktober 1929: Die Aktienkurse sind in elf Monaten weltweit um etwa 50 Prozent gefallen, die Rohstoffpreise in vier Monaten um fast 60 Prozent. Dieser Entwertungsprozess lässt gemeinsam mit dem Verfall der Immobilienpreise große Teile des Vermögens von Haushalten, Unternehmen, Banken und Entwicklungsländern wegschmelzen. Die Realwirtschaft wird in mehreren Wellenerfasst: Die Haushalteund Unternehmen senken ihre Nachfrage, weil ihre Vermögen entwertet wurden und sich ihre Wirtschaftserwartungen massiv verschlechtern. Die sinkende Importnachfrage der USA, der Rohstoffproduzenten sowie der osteuropäischen Länder dämpft das Wirtschaftswachstum in den Industrieländern zusätzlich. Alle diese Wellen verstärken sich in einer vernetzten Weltwirtschaft wechselseitig.

Und die große Prozession? Sie kam abrupt zum Halten, der „Weg der Freiheit“ stellte sich nach 35 Jahren als Sackgasse heraus. An ihrem Ende bricht die große Verwirrung aus.

Einerseits muss das Allerheiligste gerettet werden, also kann die „unsichtbare Hand“ freier Märkte nicht die Krise verursacht haben. Und so beschuldigen die frommen Geistesgrößen den Staat, er hätte besser regulieren sollen, oder die US-Notenbank unter Greenspan, sie hätte die Zinsen zwischen 2002 und 2004 nicht so niedrig halten dürfen, oder man beklagt menschliches (nur ja nicht systemisches) Versagen, manche Banker seien halt zu gierig gewesen. Auch von der „heilenden Kraft“ von Krisen ist wieder die Rede – oder von der Zuversicht, dass es bald wieder aufwärts gehen würde (all dies hat große Ähnlichkeiten mit dem Legitimationsgefasel der damaligen Mainstream-Ökonomen zwischen 1930 und 1936).

Andererseits werden die „Krisenwellen“ die Weltwirtschaft mit einer ungeahnten Wucht treffen, und das in mehreren Sequenzen, also weiß man sich nur einen Rat und kennt nur einen Retter, den Staat. So produziert die US-Notenbank Geld in unbeschränktem Ausmaß und gibt es der Regierung, damit diese Banken verstaatliche, die Automobilindustrie rette und so fort. Als rasche Symptomkur ist dies zu begrüßen (im Euroraum ist eine solche Finanzierung derStaaten durch die EZB nicht möglich, das wird uns noch teuer zu stehen kommen). Aber mit einer systemischen Diagnose der Krise und ihrer Überwindung hatdies alles nichts zu tun.Die führenden Köpfe der Freiheitsprozession sind in zunehmendem Maß einer Art Schizophrenie ausgesetzt: Einerseits sollen Wirtschaft und Geld gerettet werden, und zwar durch den Staat; andererseits soll auch der Glaube an das Walten der „unsichtbaren Hand“ gerettet werden, hat doch die Wiederbelebung über 35 Jahre so große Mühe gekostet und so viele „Wechselschritte“.

Doch ein Mittel zur Milderung von Persönlichkeitsspaltung wurde gefunden: Regulierung, Regulierung, Regulierung. Jedes Spiel brauche Regeln, also auch das „Marktspiel“. Klingt gut wie manches Hohle. Mit der großen Krise hat es wenig bis nichts zu tun. Und zwar deshalb: Das Krisenpotenzial wurde durch den gleichzeitigen Preisboom bei Immobilien, Aktien und Rohstoffen aufgebaut, dieses entlud sich in der gleichzeitigen Entwertung dieser Vermögen. Die Hypothekarkreditkrise war der Auslöser, ohne den nachfolgenden Verfall von Aktienkursen und Immobilienpreisen hätte sich keine Weltwirtschaftskrise entwickelt. Die Preise von Aktien, Rohstoffen, Wechselkursen und Zinssätzen werden auf den jeweiligen Derivatbörsen gebildet. Deren Spielregeln sind bis ins kleinste Detail klar gesetzt, die Transaktionskosten sind minimal, jeder kann von jedem beliebigen Ort aus via Internet „traden in real time“.

Allerdings: Der Handel auf diesen Märkten, welche dem optimalen Markt der Theorie am nächsten kommen, produziert systematisch „manisch-depressive“ Schwankungen der Wechselkurse, Zinssätze, Aktienkurse und Rohstoffpreise, also falsche Preissignale. Dies lässt sich durch keinerlei Regulierung beheben. Vielmehr sollte die Instabilität der wichtigsten Preise in der Weltwirtschaft in den vergangenen 35 Jahren Anlass genug sein, die Annahmen der Gleichgewichtstheorie zu hinterfragen.

Dann aber würde das gesamte Weltbild ins Wanken geraten, das man mit so großer Mühe restauriert hat. Politiker müssten sich fragen, ob sie nicht gravierende Fehler gemacht haben, indem sie sich an Losungen wie „Mehr privat, weniger Staat“ oder „Der Markt hat immer recht“ orientierten, Fehler, für die andere (Schwächere) nun zahlen müssen. Und Journalisten müssten sich fragen, ob sie nicht diese fahrlässige Politik gefördert haben, indem sie der Mode der Wirtschaftswissenschaften folgten.

Um sich dieser Mühsal auszusetzen, ist die Krise noch nicht schwer genug. Und selbst wenn sie sich vertieft: Der Problemdruck, der ein Nachdenken befördert, tritt bei anderen auf, nicht bei jenen, deren Nachdenken eine radikale Überwindung des neoliberalen Weltbilds ermöglichen könnte. Zusätzlich müssten „Großökonomen“ und sonstige „Experten“ ihren eigenen Beitrag zum „Aufbau“ der Krise wahrnehmen.

Das ist zu viel verlangt, zumindest für die erste Phase der Krise. Und wenn ihr systemischer Charakter begriffen ist als das Ende der Sackgasse des Finanzkapitalismus,braucht es neue (makroökonomische) Theorien: keine abstrakt-eleganten Luftschlösser, sondern konkret-nützliche Behausungen, bewohnt von Menschen mit Verstand und Gefühl, mit Eigennutz und Solidarität, als Individuen und als soziale Wesen. Die Theorien von Keynes mögen als Ausgangspunkt dienen, ausreichen werden sie nicht. Das Schwierigste bei der Entwicklung neuer Konzepte ist das Verlernen der alten. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.02.2009)

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