Das große Tabu

(c) Erwin Wodicka/ Bilderbox
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Komplette Querschnittlähmung auf Höhe des fünften Lendenwirbels. Können, wollen, dürfen wir darüber reden? Weil wir nicht tot sind: wir Querschnittler und unsere behinderte Sexualität. Brief eines Rollstuhlfahrers an einen sehr jungen Kollegen.

Lieber Marco! Wundere Dich nicht über diesen Brief. Lies ihn aufmerksam, aber wirf ihn nicht weg. Es könnte sein, dass Du in kommenden Jahren die eine oder andere Passage nachlesen willst. Bevor ich zur Sache komme, lass mich ein paar Worte über Deinen Vater sagen.

Ich hatte die Freude, von ihm in Geschichte und Politischer Bildung unterrichtet zu werden. Du weißt, Dein Vater ist impulsiv und begeisterungsfähig, seine mediterrane Prägung gereicht ihm sehr zum Vorteil. Du kennst auch seine Leidenschaft für die alten Römer. Die antike Republik ist ihm näher als die Kaiserzeit. Bei mir ist es umgekehrt, meine Lieblingsepoche ist jene der Soldatenkaiser im vierten Jahrhundert, als die staatliche Ordnung des Römischen Reichs zusammengebrochen war und Militärführer aus den entlegensten Provinzen des Reichs sich von ihren Legionen zu Kaisern ausrufen ließen. Zeitweise gab es fünf oder mehr Kaiser gleichzeitig. Niemand wusste, wer wo gerade regierte, die römischen Beamten fuhren auf der Suche nach Zuständigkeit und Unterschrift im Kreis, es war eine rechte Hetz.

Obwohl wir in vielen Fragen unterschiedlicher Auffassung waren, überdauerte die Freundschaft zu Deinem Vater alle Zeitenwenden. Als ich neulich einen Brief von ihm öffnete, freute ich mich auf eine historische Abhandlung. Was ich dann aber zu lesen bekam, warf mich fast aus dem Rollstuhl.

Du seist in ein abgesoffenes Kaolinbergwerk gesprungen, schrieb er. Knapp unter der Wasseroberfläche lagerten Reste einer Förderanlage. Man hatte sich den Abtransport auf eine Deponie erspart und dafür einen Zaun um den Teich gezogen. Mit den Jahren wurde der Zaun löchrig, doch die Dorfjugend wusste, an welchen Stellen man springen konnte, ohne sich zu verletzen. Du warst mit Deiner Freundin am Teich, und ihr hattet keine Ahnung. So konnte Dein Sprung größer nicht sein. Er führte Dich von der Welt der Gehenden in den Kosmos der Rollenden. Ein klassischer Lagerwechsel. – In der alten Welt warst Du noch nicht weit fortgeschritten, aber Du kamst zurecht. In der neuen Welt bist Du ein blutiger Anfänger. Die Befunde seien niederschmetternd und klar, eine komplette Querschnittlähmung auf Höhe des fünften Lendenwirbels, schreibt Dein Vater. Auch wenn der anfängliche Schock groß ist: Ich gratuliere Dir zu diesem Befund. Er schafft klare Verhältnisse. Die Chancen, dass Du Dich nicht jahrelang in Alternativtherapien aufreibst, Dich mit Deinem Vater durch einen Sumpf von enttäuschten Hoffnungen kämpfst und dabei Energie und Geld verlierst, stehen gut. Wenn man die Seiten wechselt, soll man nicht mit einem Bein auf der alten Seite bleiben wollen. Man wird sonst zerrissen.

Wahrscheinlich wirst Du auch an Selbstmord denken oder gedacht haben, wenn die schmerzenden und beschämenden Begleiterscheinungen Deiner Verletzung wieder einmal einen Großangriff gegen Deinen Lebenswillen führten. Vier Fünftel aller Querschnittler geben an, sich mit Selbstmord mehr oder minder ernsthaft befasst zu haben. Aber irgendwann ist auch dieses Stadium überwunden, das neue Leben kann beginnen. Im Übrigen ist der Prozentsatz von querschnittgelähmten Menschen, die Suizid verüben, geringer als in der nicht behinderten Bevölkerung, und Du findest gerade unter schwerstbehinderten Menschen keine Anhänger der aktiven Euthanasie. Dafür gibt es einen Grund: Sie genießen das Leben. Für nicht wenige Zeitgenossen stellen die lebenslustigen Schwerbehinderteneine Provokation dar; wenn die Ritter vom Euthanasie-Orden durch die Steppen des Zeitgeists reiten, tun sie das nicht ohne Fußtruppen, verstrudelte Philosophen und Ethikspezialisten. Diese produzieren den pseudowissenschaftlichen Rauchvorhang für das fürsorgliche Töten.

Was die angeblich letzten Fragen anlangt, gilt für unsereins: Das Nachdenken über Dinge, die durch Denken nicht zu ändern sind, muss man sich abgewöhnen. Gehen nach Orten, die durch Gehen nicht zu erreichen sind, muss man sich ebenso abgewöhnen. Damit hat sich's.

Dein Vater schreibt, dass Du tapfer bist und den Kopf nicht hängen lässt. Das ehrt Dich und bereitet mir Freude. Nur mit einem würdest Du nicht fertigwerden, dem Verlust der Sexualität, die bei Dir erst vor wenigen Jahren aufgeblüht ist. Aus diesem Grund hättest Du auch Deiner Freundin den Zutritt zu Deinem Zimmer im Rehabilitationszentrum verboten. Sie solle Deinen Katheter nicht sehen, solle sich nicht verpflichtet fühlen, solle frei für oder gegen ein Leben mit Dir entscheiden.

Das, mein verwundeter Knappe, ist die falsche Ritterlichkeit. Lass sie zu Dir, gib ihr und Dir die Chance, einen Weg durch die Terra incognita zu finden. Trennungsgründe kommen noch genug auf Euch zu, glaube mir. Und die wenigsten werden mit Deiner Behinderung zu tun haben.

Wie Du weißt, bin ich ein Veteran der Independent-Living-Szene, mehr Haudegen denn ein Mann der Worte. Ich schreibe keine Leserbriefe, ich schlitze bei Falschparkern auf Behindertenparkplätzen die Reifen auf oder schütte Zucker in den Tank. Im Alter werde ich ruhiger und lasse es mit einem Erdapfel im Auspuffrohr oder einem abgerissenen Rückspiegel bewenden. Freunde aus der Szene nennen mich Dinosaurier oder, schlimmer noch, Fossil. Doch von meinen Versteinerungen soll hier nicht die Rede sein.

Sprechen wir von Dir und Deiner – angeblich abgeschafften – Sexualität. Beginnen wir bei der Infrastruktur, den räumlichen undtechnischen Voraussetzungen für sexuelle Begegnungen, befassen wir uns mit der Logistik der Lust. Ungestörtes Vögeln setzt eine Wohnung oder ein Haus und ein nicht zu schmales Bett voraus. Du wohnst bei Deinem Vater in einem Durchbruchstal an der Donau. Das ist gut, denn die Donau ist für unsereins nicht nur ihrer rollstuhlgerechten Uferbegleitwege wegen ein Glücksfall. Der Strom fördert gleichermaßen die Weltoffenheit und die Schultermuskulatur. Was für die Donau zutrifft, kann bei der Quartierfrage für Rollstuhlbenutzer aber nicht vorausgesetzt werden. Ihr werdet Euer Häuschen adaptieren müssen. Ein Lift im Garten, sodass Du die Küche, die Veranda und die Sitzecke erreichen kannst, eine Hebeplattform für die Stufen bei der Garage und eine berollbare Dusche reichen für den Anfang.

Unter unseren Spitzengewerkschaftern und späteren Sozialministern sind nicht nur der Streikfonds des ÖGB und die Gewerkschaftsbank verzockt worden, auch die Zuschüsse und Förderungen für behinderte Menschen wurden stark gekürzt. Irgendwer muss ja für die Chalets und Penthäuser der Elsners und Flöttls gradestehen. Nur dumm, dass wir Schwierigkeiten mit dem Grade- wie auch mit dem Strammstehen haben.

Wenn wir um einen Zuschuss für die Adaptierung einer Wohnung oder eines Pkw ansuchen, schicken die Beamten uns jetzt auf Betteltour zu „Licht ins Dunkel“, wo Du, wenn Du Glück hast, tausend Euro für einen Lift bekommst, der das Zigfache kostet.

Während Dein Vater das Haus umbaut und sich auf die Suche nach einem preiswerten Automatik-Pkw macht, darfst Du nicht untätig bleiben. Du musst beharrlich an Deiner Sexualität arbeiten. Was Du jetzt lernst, wird über Dein künftiges Leben entscheiden.

Als Erstes empfehle ich Dir regelmäßiges bis exzessives Masturbieren. Du musst Dich ja einüben, musst herausfinden, was Du spürst, welche Funktionen wie ansprechbar sind. Du musst damit unbedingt schon im Reha-Zentrum beginnen, jede Minute zählt. Mach ihnen die Decke nass! Fahren wir mit der Grundlagenarbeit fort, kommen wir zum Zweiten Hauptsatz der behinderten Sexualität – dem Satz von der Erhaltung der Limbik. Er besagt, dass sexuelle Energie nicht verloren geht, sie ändert nur ihre Formen. Daraus folgt schlüssig: Erforsche Deine erogenen Zonen! Jeder Mensch hat Dutzende davon, auch wir haben genug, den Liebesgöttinnen sei Dank. Gliedmaßen und Nerven können ihre Funktionen verlieren; bei erogenen Zonen ist das nur bedingt der Fall, denn sie verfügen über die Fähigkeit zu wandern. Vom Unterleib zu den Brustwarzen ist eine der häufigsten Routen, es können aber auch Stellen am Schulterblatt, der Innenseite der Oberarme oder hinter dem Ohr sein. Finde es heraus!

Kommen wir zum nächsten Punkt: dem Satz von der Erhaltung der Handlungsfreiheit. Fangen wir mit dem Naheliegenden an: Kontrolliere Deine Medikamente! Sedativa aller Art solltest Du absetzen, Schmerzmittel nur im Notfall nehmen. Besser ein paar Schmerzen als kein Bock auf Sex.

Der vierte Punkt betrifft den Einsatz von Hilfsmitteln. Lass Dir von Deiner Freundin technische Hilfsmittel – vom Penisring bis zum Vibrator, von Handschellen bis zum Masturbator – bringen. Da Du im Reha-Zentrum in einem Mehrbettzimmer untergebracht bist, ist es ein Akt der Höflichkeit gegenüber Deinen Kolleginnen und Kollegen, dafür Sorge zu tragen, dass die Vibratoren nicht dröhnen wie Motorrasenmäher. Am besten, Du legst Dir eine nicht zu kleine Sammlung von Geräten mit unterschiedlichen Amplituden und Frequenzen zu. – Solltest Du an Krämpfen laborieren, sind rauchbare Hanfprodukte hilfreich. Für den Sex ist das Gras aber nicht förderlich, besonders bei einer Langzeittherapie. Viele von uns kiffen ihre Lust in Grund und Boden. – Sprechen wir nun von ideologischen Hilfsmitteln, auch Pornos genannt. Manche stehen darauf, andere wiederum verlassen sich auf ihre Fantasie. Mischformen sind möglich und auch zu empfehlen. Auch die wildeste Fantasie braucht Anregungen. Allzu ausgiebiger Pornofilm-Konsum jedoch ist kontraproduktiv, man wird dabei ebenfalls zum Junkie, der immer mehr ausgefallene Praktiken braucht.

Der nächste, der sechste, Punkt ist besonders wichtig. Auch Deine Freundin muss sich einem Sexualitäts-Erweiterungsprogramm unterziehen. Es wird ihr Schaden nicht sein. Und Du lernst, wie Du trotz Deiner Behinderung eine Frau befriedigen kannst. Glaub mir, das ersetzt drei Zehnerblocks Psychotherapie. Wenn sich im Reha-Zentrum keine Gelegenheit zum sexuellen Austausch bietet, dann besteh darauf, dass man Dich (und Deine Freundin) 90 Minuten einsperrt. Die Dauer eines Fußballspiels ist ein guter Anhaltspunkt, es kann ja auch zu einem Nachspiel, sprich: einer Verlängerung, kommen.

Streifen wir ein paar Binsenweisheiten und garnieren wir den Rundblick mit nützlichen Hinweisen. Erste Binsenweisheit: Geilheit ist wichtiger als Verhütung. Viele Paare, in denen ein oder beide Teile behindert sind, haben wunderbare Kinder und sind großartige Eltern. Das gilt natürlich auch für alleinerziehende behinderte Eltern.

Zweitens. Vögeln in Räumen, die nicht fürs Vögeln gemacht sind, sollt Ihr Euch angewöhnen. Ein gutes Plätzchen für die limbische Andacht findet sich überall. Auch Spielkasinos, Fußballkabinen oder Autowaschstraßen haben ihren Reiz. Es gibt in all diesen Spezialfächern erstaunliche Talente. Ich kenne ein Paar, sie im Rollstuhl, er nicht behindert, das fährt gern an die Adria. Die beiden haben ein ausgeprägtes Faible für Waschstraßen. Die Anfahrtszeiten nach Bibione werden immer länger, und in zwei Waschstraßen – eine in der Steiermark, eine am Wörthersee – haben die beiden Waschverbot. Dennoch ist der Wagen bei der Ankunft am Meer picobello.

Die Sexualität ist ihrem Wesen nach antiherrschaftlich und anarchisch. Wenn sie richtig betrieben wird, ist sie – um mit Woody Allen zu sprechen – eine schmutzige Sache, die sich um Konventionen nicht schert. Sei Dir aber bewusst, dass die Geschäftemacher nichts unversucht lassen, auch die Sexualität einer lückenlosen Verwertung zu unterziehen. Das Ziel der Pornoindustrie ist die Austreibung der Lust. An deren Stelle soll die Sucht treten, die Sucht nach immer ausgefalleneren Sexturnereien, die die Tableaux vivants des Marquis de Sade in den Schatten stellen. Ganz kann man dem Business nicht entkommen, Du kannst es aber für Deine Zwecke nutzen. Du siehst schon, vom Mainstream kommend bist Du in eine Art von Partisanenexistenz gerollt. Je früher Du das begreifst, desto besser für Dich und Deine Lieben. Gegenüber der sich überschlagenden Geschäftswelt bestehen wir auf klaren Regeln und freundlichem Verhalten. Bei der Gefahr des Verlusts unserer staatsbürgerlichen Würde achten wir darauf, dass wir in einer Gesellschaft, in der Selbstbestimmung nur für Betuchte existiert, so viel Autonomie behalten wie nur möglich.

Das Festlegen erreichbarer Ziele ist nicht einfach. Auch unser Bewusstsein wird von Klischees und Heucheleien überschwemmt. Nimm nur Lars von Triers ersten großen Filmerfolg, „Breaking the Waves“. Ein Arbeiter auf einer Bohrinsel ist durch einen Unfall vom Hals abwärts gelähmt und liegt im Bett. Er zwingt seine Frau, sich zu prostituieren und ihm von den schlimmsten Begegnungen zu berichten. Nicht so sehr des Geldes wegen. Die liebende Frau gehorcht und taucht in erniedrigende sexuelle Akte ein. Der gelähmte Mann lässt sich detailgenau berichten, er bezieht sexuelle Lust aus dem Verfall seiner Frau. Irgendwann – die Frau ist ein Wrack – wird sie von ihrem Mann verstoßen. Ihr Hurendasein widert ihn an. Sie landet endgültig in der Gosse und geht elendiglich zugrunde. An ihrem Grab steht dann die Trauergemeinde und heuchelt Mitgefühl. Unter den Trauergästen befindet sich auch ihr Mann, stehend, ohne Rollstuhl. Ihr Opfertod hat ihm die Macht über seine Beine und über seine Sexualität wiedergegeben. Vor dem Abspann des Filmes sieht man dann noch zwei schwingende Kirchenglocken. Sie läuten der Geopferten auf demWeg in die Hölle. Die Botschaft des Films: Meidet die Behinderten, sie sind mit dem Bösen im Bunde.

Du fragst, warum ich über Ideologien und Politik und nicht über Zärtlichkeiten schreibe? Ideologien sind das Feld, auf dem die Menschen sich der strukturellen Widersprüche in der Gesellschaft bewusst werden, lieber Marco. Es geht nicht darum, ohne Ideologien zu leben – das ist unmöglich –, es geht um Ideologien, die unserer Lage angemessen sind. Ohne Zweifel zählen Zärtlichkeiten zu den schönen Abwechslungen im Alltag. Auch im Bett haben sie ihren Platz, aber Vorsicht! Sie bergen auch die Gefahr, dass sie die Sinne ab- statt anregen, das Gerede von den Zärtlichkeiten hat für uns behinderte Leute einen großen Haken. Oft will man uns mit Zärtlichkeiten abspeisen, wo wilder, fantasievoller, unerhörter Sex unser Ziel ist. Daher rateich Dir: Sei beim Wettkampf um den zärtlichsten Liebhaber immer unter den Letzten. Sonst bekommst Du eine schädliche Nachred als streichelndes Weichei.

Lieber Marco, wenn Du mehr über das Politische in der Sexualität erfahren willst, lies Wilhelm Reich! Das Menschenrecht auf einen Orgasmus ist spätestens seit seinen bahnbrechenden Arbeiten im Wien und im Berlin der Zwanziger- und frühen Dreißigerjahre bekannt (wenn auch nicht allgemein anerkannt).

Reden wir nun über einen Bereich, der bisher zu kurz gekommen ist. Reden wir über Sexualität und Liebe. Hier warne ich Dich vor einer folgenschweren Verwechslung. Die beiden gehören unterschiedlichen Sphären an. Guter Sex mit jemandem, den man nicht liebt, aber mag, ist eine famose Sache. Es können auch mehrere Partnerinnen und Partner beteiligt sein, und es ist nicht so wichtig, ob sie voneinander wissen oder nicht. Wer ein eingeschränktes Leben führt, soll im Sex nicht die umfassende, alle Wünsche und Neigungen abdeckende Erfüllung suchen. Eine Crew, die lange auf hoher See war, freut sich über jeden Hafen, unbeschadet von dessen Ausstattung. Man lernt bei größerer Fallzahl auch mehr über sich und seine Lust. Man getraut sich, Dinge zu tun und nachzufragen, die man einer verehrten oder geliebten Person nicht so ohne Weiteres zumuten mag. Und man lernt, seiner Lust zu vertrauen. Man lernt riechen und spüren, und man erfährt, was geschieht, wenn einen der Verstand verlässt, aber nicht, um einem Nervenschmerz Platz zu machen, sondern einer nie zuvor erfahrenen Lust.

Dass beides zusammen – leidenschaftlicher Sex und große, durch nichts behinderte Liebe – möglich ist, zählt zu den Glücksfällen des Lebens. Ich glaube nicht, dass man, um diese Sache zu erleben, Wüsten des Lebens durchquert haben muss, aber ich glaube sehr wohl, dass die durchquerten Wüsten einen wach und aufmerksam machen – auf dass man die große Liebe des Lebens nicht durch Dummheiten wie Kleinmut oder Alkoholisierung verpasst. Wenn es so weit ist, sollst Du das Glück gefälligst leben. Das Handwerk aber, das mit der Erfahrung und der Vielfalt in Deinen sexuellen Lehrjahren wächst, darfst Du nicht vernachlässigen. Es könnte sein, dass Du es gerade bei Deiner großen Liebe brauchst. Manche müssen alt werden, um das zu erfahren. Viele erleben es nie, und man kann nicht sagen, dass sie durch schuldhaftes Verhalten leer ausgehen. Aber unschuldig sind sie auch nicht. Unschuldig ist niemand, schon gar nicht, wenn es um Sex geht. Da hat jeder seine Leichen im Keller, und bei manchen ist dieses Wortbild wörtlich zu nehmen.

Das führt mich zur Rolle des Humors beim Sex. Wer beim Vögeln kudert und kichert, gehört ins Lachkabinett und nicht ins Bett. Die sexuelle Walstatt ist ein existenziell bedeutender Ort – in dieser Hinsicht einer Kinderkrippe oder einem Sarg vergleichbar. Du kannst darin neu geboren werden, Du kannst aber auch tausend Tode sterben. Kein Platz für kindisches Gehabe.

Lieber Freund! Ich habe versucht, Dir einen kleinen Abriss der Dinge zu geben, die auf Dich und Deine Sexualität zukommen. Ich versichere Dir, das meiste ist noch zu erwarten, und ich meine das nicht zynisch. Wir behinderte Menschen haben die Chance, uns frühzeitig von quälenden Rollenbildern zu verabschieden und etwas Neues, Unerhörtes in Angriff zu nehmen. Der Umweg ist unsere Direttissima, Marco! Es braucht nur Beharrlichkeit, ein wenig Mut und ein paar Informationen. Mit Letzteren haben wir ebenbegonnen. Für alles Übrige gilt: „We'll cross that bridge when we come to it.“

Mit herzlichem Donaugruß!

PS: Kümmere Dich um Deinen Vater! Den eigenen Sohn gelähmt zu sehen ist von den Prüfungen, die einen Vater heimsuchen können, eine der schweren.

PPS: Zerbrich Dir nicht den Kopf wegen eines Antwortbriefes. Ich will keine Höflichkeit von Dir, ich will, dass Du Dein Leben in die Hand nimmst. Falls Du den einen oder anderen Rat brauchst, zögere nicht und schreib mir eine Postkarte. Verschone mich mit Smileys, Likes, Tweets, Apps, Cookies und Druckis und dem übrigen Digitalkram. Ich habe dafür keinen Empfang. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.03.2016)

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