Die Stadt frisst ihre Äcker

Wir brauchen städtische Landwirtschaft für Nahversorgung wie für ökologische Ziele. Doch die Produktion von Gemüse wird in Wien zunehmend durch eine PR-Produktion von Gemüsegartenbildern abgelöst. Über Urban Gardening, Donaufeld, Haschahof – und darüber, was das eine mit den anderen zu tun hat.

Hollareitulliö!“, ruft Harry Prünster ins Bühnenmikrofon. „Hollareitulliö!“, hallt es vom Flakturm zurück. Denn das von der heimischen Jungbauernschaft organisierte Erntedankfest findet 2016 im Wiener Augarten statt. Es ist kein wirkliches Fest der Dankbarkeit, bei dem Bedürftige mit Obst und Gemüse beschenkt werden, eher ein Verkaufs- und Werbe-Event mit mehr als 100 Ausstellenden, zum Beispiel aus den diversen „Genussregionen“ oder den Nationalparks Österreichs. Das Fest wirkt anachronistisch. Da gibt es ein Hirschgeweih, das Mann sich aufsetzen darf, dort eine Trachtenmodenschau, dazwischen Jauntaler Hadn und Mühlviertler Bergkräuter. In der Schuhplattlergruppe platteln auch Mädchen mit, die Jungbauern haben eine „JungPowerZone“ eingerichtet, und der Leiter des Trachtenkinderchors nennt sich „Mr. Drehorgel“. Wobei das, was da gesungen wird, dann wieder traditionelles österreichisches Liedgut ist: „I verkauf net mein Dirndl, weil i's heiratn tua.“

Der Platz bei der großen Bühne ist von Wiener Ständen gesäumt. „Wir leben Stadtlandwirtschaft“ wird auf großen Stirnschildern verkündet. Bis auf die „Wiener Schnecken“ vom Gugumuck-Hof in Rothneusiedl sind aber ausschließlich Heurige vertreten. Man könnte meinen, die Landwirtschaft in Wien beschränke sich auf den Weinbau und ein paar Nischenbetriebe.

Dabei stehen den 660 Hektar Weingärten noch rund 4900 Hektar für Acker- und Gemüsebau gegenüber, auf denen jährlich 115.000 Tonnen an pflanzlichen Nahrungsmitteln produziert werden, davon 60.000 Tonnen Gemüse – würden sie ausschließlich von der Wiener Bevölkerung verzehrt, wären das rund 30 Prozent ihres Gemüseverbrauchs. Für eine Großstadt ein beachtlicher Anteil an Selbstversorgung. Angesichts der multiplen Krisen, auf die wir weltweit zusteuern, müsste er erhöht werden. Das sieht auch die rot-grüne Stadtregierung so und formuliert in ihrem Regierungsübereinkommen von 2015 das Ziel, „verstärkt Lebensmittel aus dem eigenen Umfeld genießen zu können und zur Bewusstseinsbildung für ökologische Landwirtschaft und Nahversorgung beizutragen“. Ein Ziel, das die Stadt durch die Förderung von ein paar Gemeinschaftsgärten zwar medienwirksam verkauft, in Wirklichkeit aber untergräbt, indem sie für die Stadterweiterung zunehmend Landwirtschaftsflächen heranzieht.

Wien wächst: Das ist das Leitmotiv, dem derzeit alles untergeordnet wird. Das Wachstum der Stadt wird zum einen als Sachzwang dargestellt: Wien kann gar nicht anders, Alternativen sind also von vornherein undenkbar. Zum anderen wird das Wachstum als Zeichen für eine erfolgreiche Stadtentwicklung gesehen. In den Worten des aktuellen Stadtentwicklungsplans (StEP 25): „Die dynamische Bevölkerungsentwicklung der vergangenen 25 Jahre und das für die kommenden Jahrzehnte prognostizierte Wachstum sind in erster Linie eine Bestätigung dafür, dass Wien als moderner Lebens- und Wohnraum und erfolgreicher Wirtschaftsstandort attraktiv ist.“ Grundlegende Fragen der Stadtentwicklung und Auseinandersetzungen um die politische Gestaltung von Stadt haben da keinen Platz.

Orientierung am guten Leben aller

Der neoliberale Umbau Wiens lässt sich nicht zuletzt in den Stadtentwicklungsplänen mitlesen. So kommt die Stadt als Wirtschaftsstandort im StEP 84 überhaupt nicht vor, drängt sich in den folgenden Plänen jedoch zunehmend in den Vordergrund. Im StEP 05 wird unter „wesentlichen Zielen“ als erstes Ziel die Notwendigkeit genannt, „im Wettbewerb der Städte und Regionen durch attraktive Standorte, Infrastruktur und innovative Einrichtungen ein investitionsfreudiges Klima für die Wirtschaft zu schaffen“. Das Leitbild einer „unternehmerischen Stadt“ schlägt sich auch in Hinblick auf Grünraum nieder. Die ökonomische Bedeutung von Grünflächen wird im StEP 25 hauptsächlich als Nutzen für den Tourismus und die Immobilienwirtschaft diskutiert, da sie die „frühzeitige Vermarktung von Objekten“ unterstützen und eine sehr „günstige Kosten-Nutzen-Relation“ aufweisen würden. Auch wird die Einführung von Public-Private-Partnerships in der Bewirtschaftung öffentlicher Parkanlagen angestrebt.

Ökologische Aspekte spielen in den gegenwärtigen Strategien der Stadt zwar eine prominente Rolle, werden aber als Teil einer „ökologischen Modernisierung“ gedacht, die Wachstum und Umwelt auf einen Nenner bringen soll. Entsprechend gilt eine am Profit ausgerichtete und konzerndominierte Technologie dort weithin als der Schlüssel für eine ökologische Wende, statt Alltag und Wirtschaft hin zu einer Orientierung am „Genug“ und am guten Leben aller umzugestalten. So werden der Ausbau und die Modernisierung der technologischen Infrastruktur Teil des vermeintlichen Sachzwangs Wachstum, der Bock bekommt den Job des Gärtners.

Das Wachstum der Stadt braucht politisch geschaffene Grundlagen. So wurde 2004 – im Rahmen des StEP 05 – mit dem Agrarstrukturellen Entwicklungsplan (AgStEP) ein erstes übergeordnetes Planungsinstrument für städtische Landwirtschaft gemeinsam von der Wiener Landwirtschaftskammer und diversen Magistratsstellen erarbeitet. Deklariertes Ziel war dabei der Erhalt der Bewirtschaftung landwirtschaftlich genutzter Flächen. Zur Umsetzung wurden landwirtschaftliche „Vorranggebiete“ definiert, die gesichert werden sollten. Darunter fallen großflächige, zusammenhängende Flächen sowie „kleinräumige Flächen mit besonderer örtlicher Bedeutung“, die den landwirtschaftlichen Betrieben „optimale Entwicklungsmöglichkeiten“ bieten sollen. Alle anderen landwirtschaftlich genutzten Flächen werden als „weitere Flächen“ bezeichnet und sind in den Plänen nicht (mehr) dargestellt.

Mit der Unterscheidung zwischen Gebieten mit „optimalen Entwicklungsmöglichkeiten“ und „weiteren Flächen“ wird einebestimmte Art der Landwirtschaft, nämlich eine wettbewerbsfähige, profit- und wachstumsorientierte Art der Produktion, als einzig erhaltenswerte festgeschrieben. Alle anderen Formen städtischer Landwirtschaft, die nicht auf Wachstum, sondern auf dem „Genug“ beruhen, werden damit unsichtbar gemacht. Zugleich wird so ein Verlust an Flächen vorbereitet, die als landwirtschaftliche zuvor schon in den Planungsunterlagen entwertet worden sind.

Landwirtschaftliche Flächen spielen somit zu großen Teilen lediglich die Rolle eines Vorrats für die Siedlungsentwicklung und sind nicht Teil des Entwicklungsleitbilds von Wien. Der Stellenwert des AgStEP wird in der aktualisierten Version durch die Datenlage über den Verlust an landwirtschaftlichen Flächen aufgezeigt. Laut Realnutzungskartierung haben sich demnach die landwirtschaftlichen Flächen in Wien von 7000 Hektar im Jahr 1997 auf 6000 Hektar im Jahr 2012 reduziert. Seitdem gingen schätzungsweise weitere 400 Hektar verloren.

Dass der Verlust von rund 1400 Hektar fruchtbarer Böden vorwiegend im Bereich der „weiteren landwirtschaftlichen Flächen“ stattfand, wird als Beweis für die Wirksamkeit dieses Planungsinstruments dargestellt. Allerdings liegt dessen Wirksamkeit zuvor bereits auf einer tieferen Ebene. Denn durch die Kategorie der schützenswerten „Vorrangflächen“ hat der AgStEP die Definitionsmacht darüber, was als städtische Landwirtschaft gilt und somit gesichert werden soll – und was als Abweichung von dieser Norm nicht nur von den Plänen und Karten, sondern letztlich auch von den realen Böden dieser Stadt zunehmend verdrängt wird.

Der Diskurs der Stadtentwicklung schweigt zu dieser Problematik. Fragen von Entscheidungs- und Gestaltungsprozessen im Hinblick auf die städtischen Ressourcen an landwirtschaftlichen Flächen und Grünraum sowie der tatsächlichen Zugänglichkeit von Grünraum für alle Menschen der Stadt bleiben unbeantwortet.

Dort, wo im StEP 25 landwirtschaftlich oder gartenbaulich genutzte Grünräume angesprochen werden, gilt nicht die immer noch große Bedeutung der landwirtschaftlichen Produktion in Wien als relevant, sondern die sogenannte Bürgerbeteiligung über grünraumbezogene Projekte. Initiativen der Stadtlandwirtschaft, des Urban Gardening und von Selbsternteparzellen werden unter dem Gesichtspunkt der Schaffung von „Identität“ und „Verantwortungsbewusstsein“ sowie von „Eigenverantwortung“ behandelt. Daneben gelten sie als „sozialer Faktor“ und Ausdruck einer „Lust am Produzieren von eigenen Lebensmitteln“.

Dies widerspricht der politischen Orientierung einiger der in solchen Initiativen Aktiven. Sie zielen gerade in den (wenigen) landwirtschaftlich ausgerichteten Projekten auf eine andere Art der Stadtentwicklung, die den Erhalt der natürlichen Produktionsgrundlagen und die Abkehr von der Wachstumsideologie ins Zentrum stellt. Hieran zeigt sich: Die neuen Formen städtischer Landwirtschaft werden von den Stadtentwicklungsplänen gehörig zurechtgebogen, damit auch sie in das Wachstumsparadigma passen.

Hervorbringen schöner Worte

Eine offene Auseinandersetzung um die Entwicklung von Stadt wird in Wien nicht geführt. Beteiligungsprozesse hin oder her: Substanzielle Partizipation bleibt eingeschränkt, die grundlegende Gestaltung von Stadt ist davon ausgeschlossen. Woran es nicht fehlt, ist jedoch das Hervorbringen schöner Worte und Bilder. Die Produktion von Gemüse wird zunehmend durch eine Produktion von Gemüsegartenbildern abgelöst. Zum Beispiel aufdem Donaufeld: Dort soll zwar im Rahmen eines Grünzugs weiterhin „urbane Landwirtschaft“ stattfinden, gemeint sind damit allerdings nicht landwirtschaftliche Produktionen, sondern Nachbarschaftsgärten.

Zum Beispiel in Rothneusiedl, im Süden von Favoriten: Das Gebiet wird im AgStEP als„landwirtschaftliches Vorranggebiet der Kategorie 2“ ausgewiesen und führt gleichzeitig ein Doppelleben als „Zielgebiet der Stadterweiterung“. Doch bereits das, was in allerjüngster Zeit dort geschah, wirft kein gutes Licht auf das wohlformulierte Ziel der Stadt, den Selbstversorgungsanteil zu erhöhen. Im Zuge von Grundstückskäufen für das künftige Stadterweiterungsgebiet zerstörte der Wohnfonds Wien 2015 das Leben, das dort bereits Stadt fand: das Selbsternteprojekt Haschahof, in dessen Rahmen sich seit 1987 Tausende Wienerinnen und Wiener biologisch nahversorgten. Mit dem Versuch des Wohnfonds, auch gleich den schönen Gründerzeithof abzureißen, ging die Geschichte als Skandal in die Stadtchronik ein.

Die Wiener Landwirtschaftskammer hat gegen diese Vorgänge keinen Protest eingelegt. Dass sie beim Erntedankfest 2016 ihre neue Homepage bewarb, die ausgerechnet den in der Urban-Gardening-Szene genutzten Begriff der „Stadtlandwirtschaft“ als Name hat, soll hier abrundend als ein letztes Beispiel dafür genannt sein, wie heute vermehrt durch das Wording Politik gemacht respektive Politikmachen vorgetäuscht wird. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.10.2016)

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