Familie, ein Abriss

Auf der Plusseite stehen immerhin sichere Sexualität, Fürsorge und Solidarität in Notfällen, Sinngebung sowie die Möglichkeit der Reproduktion, also ein Kind zu haben. Warum drohen Lebensform und Institution der Kernfamilie dennoch unterzugehen?

Wunsch und Wirklichkeit. – Ein geglücktes Familienleben ist auf der Wunschliste der Menschen ganz oben zu finden, in der Wirklichkeit bleibt davon mitunter wenig übrig. Die kulturellen Versprechungen der 1960er- und 1970er-Jahre, entspanntere Verhältnisse anzusteuern, haben sich kaum erfüllt, sieht man von den damals rigiden Normen zu Sexualität, Bekleidungsmode und Umgangsformen ab. Dort, wo es um die harten Gegebenheiten des Alltags geht, um Erwerbsarbeit, Konsum, Freizeit, Politik, Beziehungen und Identität, ist vieles mühsam und beschwerlich geworden.

Arbeitsplätze sind heute knapp und wettbewerbsgeprägt. Ein absolviertes Studium garantiert längst nicht mehr einen Arbeitsplatz, und bei geringer qualifizierten Berufen drängen Osteuropäer und Migranten vehement in den Arbeitsmarkt. Weiterbildungswillig, flexibel, mobil sowie teamfähig und wettbewerbsfreudig, dabei hoch loyal und emotional an das arbeitgebende Unternehmen gebunden, so stellen sich heute Personalchefs ihre künftigen Mitarbeiter vor. Und diese müssen im Vorstellungsgespräch oder Assessment Center zuerst und später dann im Dauerbetrieb als PR-freudige Unternehmer ihre eigene Arbeitskraft verkaufen. Mobil sein ist für traditionelle Menschen meist ungeliebter Zwang, für junge, moderne, postmaterielle, multikulturelle Menschen hingegen oft ein Motiv. Sage da noch einer, Menschen wären nicht anpassungsfähig.

Aufweichung von Stabilität. – Arbeitserfordernisse oder das Festhalten am Wohnort haben bei Paaren zum Phänomen des „Living apart together“ geführt. Trotz unterschiedlicher Orte lebt man beziehungsmäßig zusammen, sieht sich am Wochenende oder seltener. Für Österreich gibt es keine Daten, aber es wird wohl ähnlich wie in Deutschland sein. Bei den unter 30-Jährigen sind die an getrennten Orten lebenden Paare mit einem Anteil von 20 Prozent die zweithäufigste Lebensweise geworden, so deutsche Familienforscher. Gründe dafür: Individualisierung der Lebensformen und Mobilitätserfordernisse – man ist auf Arbeitsverhältnisse angewiesen, die sich nicht mehr gut zusammenbringen lassen. Allerdings, es sind instabile Beziehungen, die Hälfte dieser Paare trennt sich innerhalb eines Jahres.
Wohnen ist teuer geworden, das entscheidende Problem für junge Menschen ist jedoch, zur ersten eigenen Wohnung zu kommen. Diese dann nach gewohntem Standard einzurichten kostet viel Geld – was sich die Eltern über Jahrzehnte angeschafft haben, von Möbeln, Geschirrspüler und Waschmaschine bis zum großen Flachbildfernseher, das wird jetzt auf einen Schlag fällig. Diese hohen Haushaltsgründungskosten sind eine Ursache dafür, warum viele Junge immer länger in ihren Herkunftsfamilien leben, in Österreich ziehen heute Männer im Durchschnitt mit 26 und Frauen mit 24 Jahren von zu Hause aus, das heißt, die andere Hälfte wohnt noch länger daheim. Ein weiterer Grund ist die zunehmende Ausbildung an Hochschulen, künftig werden wohl auch Kindergärtnerinnen einen Studienabschluss benötigen (für diese „Verakademisierung“ von Berufen sprechen übrigens kaum sachliche Gründe).

Die unterschiedlichen Kosten. – Wohnt ein Paar zusammen, dann sparen die beiden bei den Kosten, der Vorteil beträgt rund ein Viertel im Vergleich zu zwei getrennten Haushalten. Es liegt auf der Hand: eine Küche und ein Badezimmer statt jeweils zwei, und das setzt sich bis in die täglichen Ausgaben fort. Allerdings erfordert ein geglücktes Zusammenleben wiederum etliche Kosten nicht monetärer Art. Aushandlungen, Kompromisse und Ausgleiche – Zusammenleben ist heute ungleich komplizierter und zeitaufwendiger als vor fünf oder mehr Jahrzehnten, das mindert seine Anziehungskraft ganz erheblich. Auf der Plusseite stehen hingegen sichere Sexualität, Sympathie, Fürsorge und Solidarität in Notfällen, Sinngebung sowie die Möglichkeit der Reproduktion, also ein Kind zu haben.
Allerdings, Kinder kosten wiederum Geld. Nimmt man mangels heimischer Zahlen deutsche her, so waren es vor einigen Jahren im Schnitt 520 (Kind unter sechs) bis 700 Euro (dann bis zur Volljährigkeit) monatlich, die Eltern für ihr Kind ausgegeben haben. Diese Ausgaben variieren natürlich kräftig mit dem Einkommen, das wohlhabende Kind hat mitunter ein eigenes Reitpferd, das arme außer den neuen Adidas-Schuhen oft nur Secondhandsachen. Nun, die sogenannte Fertilitätsrate (Kinder pro Frau) steigt wieder, tatsächlich. Vor zehn Jahren waren es 1,4 Kinder, die eine Frau hatte, heute sind es 1,5. Sieht man aber näher hin und steigt in die Tiefen der Statistik hinab, so zeigt sich der Einfluss durch Migration: Österreichische Staatsbürgerinnen liegen nach wie vor bei 1,4, ausländische Frauen hingegen bei 2 Kindern.

Multikulturalität und Alltag. – Natürlich, um ein Kind zu haben, braucht es heute keine heterosexuelle Partnerschaft. Im modernen multikulturell-postmaterialistischen, also vor allem links-grün-liberalen Verständnis reichen Wunsch und Geld; eine Frau, die ein Kind in Auftrag gibt, kann dieses heute aus US-amerikanischem Sperma, südafrikanischer Eizelle und indischer Leihmutterschaft problemlos zusammenbasteln lassen. Alleinerziehen ist – heute in der Stadt – dabei kein Makel mehr, Patchwork oder Homosexualität (rund zwei Prozent der Bevölkerung sind homosexuell, Medien und Politik erwecken oft den Eindruck, es wären weitaus mehr) sind beinah schon ein Statussymbol, und für das Kind sorgen eben Krippe, Kindergarten und Ganztagsschule. In den städtischen Milieus ist es aber auch okay, kein Kind haben zu wollen („Ein Kind tu ich mir doch nicht an“). Das nächste Thema, das sich im multikulturell inspirierten Teil unserer Gesellschaft langsam ankündigt, wird übrigens Polyamorie sein, also Partnerschaften beziehungsweise Ehen zu dritt oder viert. Einiges scheint da noch möglich.

Gewünschte und gelebte Vereinzelung. – Vielen Menschen ist es zu kompliziert, ihnen sind permanente Aushandlungszwänge als Kosten für gemeinsames Leben zu teuer. Knapp die Hälfte der Ehen endet mittlerweile per Scheidung, die rechtlich nicht formalisierten Paarbeziehungen (sie steigen kontinuierlich an – heute ist das ein Fünftel der Paare) sind da erst gar nicht einbezogen. Singlehaushalte dominieren mittlerweile in den großen Städten. Insgesamt sind hierzulande 37 Prozent der Haushalte Singles, folgt man deutschen Daten, leben sie mehrheitlich ganz gern allein. Echte Familien, also mit Kind(ern), halten nun bei 36 Prozent. Unser Statistikamt zählt ja, aus welchen Korrektheitsgründen auch immer, eine Million Paare ohne Kinder ebenso als Familien.

Singlehaushalte hat es immer schon gegeben, haben doch Männer eine rund fünf Jahre kürzere Lebenserwartung, dazu sind ihre Partnerinnen im Schnitt rund vier Jahre jünger, also naheliegend, dass es Witwen gibt. Junge Singles sind demgegenüber eine Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte. Alleine leben, da das dem individualistischen Verständnis entspricht, man komplizierte Aushandlungen und Konflikte (Kosten) vermeidet und ohne Mühen und Frust sich in den Freizeitkonsum und sonstige Abenteuer stürzen kann. Sollte sich dennoch etwas Festeres entwickeln, gibt es ja das erwähnte Modell des „Living apart together“.

Kinderknappheit. – Die Zielgruppe der Kinder und Jugendlichen scheint riesengroß, denkt man an Werbung und Marketing, die nachhaltig auf „jung“ abzielen, tatsächlich war ihr Anteil aber noch nie so gering. Nur mehr 17 Prozent der Bevölkerung sind Kinder und Jugendliche (bis 18 Jahre), in rund zwei Drittel der österreichischen Haushalte leben gar keine mehr. Hat ein Paar Kinder, dann wären es dem mehrheitlichen Wunsch nach zwei. In dem guten Drittel der Haushalte, in denen Kinder (bis 18) leben, sind es etwa zur Hälfte solche mit nur einem Kind. Einzelkinder haben bei den Klassikern der Psychologie, Alfred Adler etwa, den Ruf, eher schwierige Persönlichkeiten zu sein. Solche Dinge werden heute in der Ära des multikulturellen Individualismus und politisch korrekter Betulichkeit jedoch gern unter den Teppich gekehrt.

Bobo-Erziehung. – Die „1968er“-Jahre hatten zwar politisch kaum Wirkung, aber kulturell haben sie viel verändert, etwa die herben autoritären Strukturen in der Gesellschaft aufgeweicht und insbesondere die Sexualität aus dem starren Reglement der Nachkriegsjahre herausgelöst. Andererseits musste im fortgeschrittenen Kapitalismus, der unendliche Konsummöglichkeiten versprach, Sexualität ohnedies nicht mehr repressiv gezügelt bleiben. Disziplinierung ging jetzt von den Konsummöglichkeiten aus.
Ein Beiprodukt dieser Entwicklung war die veränderte Rolle des Kindes und der familiären Erziehung. Waren die jungen Erwachsenen der „68er“-Zeit selbst noch autoritär erzogen aufgewachsen, versuchten sie nun, dies beim eigenen Kind zu vermeiden, und übernahmen dabei stillschweigend den Erziehungsstil der US-amerikanischen Mittelschicht. Viel Förderung, beste Ausbildung, Lob, kein Tadel mehr, Mitsprache des Kindes, familiäre Demokratie waren angesagt bis hin zur sorgsamen Überbehütung à la Helikoptereltern. Und: Man will dem eigenen Kind vor allem der gute Freund sein. Mit klassisch psychoanalytischer Perspektive wird man sich von einer solchen Entwicklung allerdings mit Schaudern abwenden.

Schneeflöckchen-Generation. – Menschen zu kategorisieren ist ein Geschäft für Marktforscher und viele Beraterberufe geworden. Das wird ausgiebig bei jungen Menschen gemacht, sie haben inzwischen die Etiketten „Generation Y“ (ab 1980) und „Z“ (ab 1995) aufgeklebt bekommen. Für die großstädtische Mittelschicht werden diese Typisierungen wohl halbwegs zutreffen, zudem werden sie von den Medien eifrig mitgeprägt. Arbeitsfroh, am Arbeitsplatz brav, weiterbildungswillig und Zertifikatesammler, netzwerksüchtig und technikaffin, auf Freizeit und Konsum bedacht, gern multikulturell und global, so könnte man sie charakterisieren. Aber da stets auf Identitätssuche, Balance, Selbstbestimmung und Zustimmung ihrer Gruppe aus, sind sie große Sensibelchen („Snowflakes“), was ihre Befindlichkeiten betrifft.

Aussichten. – Familien benötigen stabile, langfristig sichere Rahmenbedingungen. Diese lösen sich gerade auf, sowohl von den äußeren Voraussetzungen (etwa Erwerbsarbeit) wie von den subjektiven Gestimmtheiten (postmaterialistische und multikulturalistische Werte). Hierzulande sind rund ein Drittel der Bevölkerung Postmaterialisten und bevorzugt in Medien, Schulen, im Bildungsbereich, in der öffentlichen Verwaltung sowie in der Kulturindustrie tätig, also dort, wo Meinungen gebildet und verfestigt werden. Sie werden die angesprochenen Entwicklungen, also die Erosion traditionell familiärer Strukturen, fortsetzen, und die Traditionalisten werden dabei – mangels Deutungshoheit – letztlich etwas unwillig und verzögert folgen. ■

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