Moledet: Das heißt Heimat

Seit es Israel gibt, ist Diaspora kein Fluch mehr. Indepedence Hall, Tel Aviv: Ort der Unabhängigkeitserklärung vom 14. Mai 1948.
Seit es Israel gibt, ist Diaspora kein Fluch mehr. Indepedence Hall, Tel Aviv: Ort der Unabhängigkeitserklärung vom 14. Mai 1948.(c) Wolfgang Freitag
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Ich wollte kein Wiener Jude werden. Ich war in Tel Aviv geboren worden, war ein Sabre, eine Kaktusfeige, denn so werden jene jüdischen Kinder genannt, die im neuen Staat zur Welt kommen. Heute lebe ich in Wien – und lebe zugleich mit Israel mit. 70 Jahre Israel: persönliche Notizen zu einem Jubiläum.

Es heißt, ich sei im letzten Augenblick umgekehrt. Die ganze Familie ging auf das Flugzeug zu. Mit Säckchen und Päckchen. Meine Mutter, meine Großmutter, mein Vater und mein älterer Bruder, bereits neun Jahre alt. Quer über das Flugfeld. Kein Bus – so glaube ich zumindest – brachte uns zur Gangway. Alle schleppten, was in die Koffer nicht mehr hineingepasst hatte. Wir verreisten nicht bloß. Wir fuhren nicht auf Urlaub. Wir mussten länger fortbleiben. Ich war etwa drei Jahre alt und trug meinen Teddybären, der größer war als ich damals. Je näher ich, das Kleinkind, dem Flieger jedoch kam, umso mächtiger schien mir die Maschine. Ich weiß nicht, ob es der Motorlärm war, der mich erschreckte, doch einige Meter vor dem Ziel ließ ich den Stoffgefährten, das Kuscheltier, mit dem ich das Bett teilte, fallen, drehte um und lief davon. Mein Vater sah mich, rannte mir nach, holte mich ein. Er, der ohnehin schon mehrere Taschen und Beutel in den Händen hielt, griff mich auch noch auf, sammelte den Teddy ein und schaffte mich ins Flugzeug.

Das war kein Umzug, um zu bleiben. Mein Vater musste in Wien seinen Geschäften nachgehen. Im nächsten Jahr, allenfalls im übernächsten, so glaubten meine Eltern, würden wir zurückkehren; sie versprachen es einander und uns, ihren Söhnen. Diese Absicht wurde wiederholt, sooft sich die Heimfahrt verschob, im nächsten und im übernächsten Jahr. Der Satz wurde zum Mantra der Familie. Zu Pessach hieß es bei uns – wie bei allen Juden: „Nächstes Jahr in Jerusalem.“ Wir, die Rabinovicis, feierten die Tradition, doch wir glaubten nicht daran. Unsere Stadt war nicht Jerusalem, sondern Tel Aviv. Dorthin wollten wir heim. Wir lebten im Provisorium. Die Zwischenlösung wurde zum Dauerzustand. Wir Kinder wurden zum Grund und zum Vorwand: Erst wurde erklärt, wir sollten die Volksschule abschließen, dann wurde verlängert und gesagt, wir müssten das Gymnasium absolvieren, zum Schluss ging es darum, auch noch das Studium in Österreich zu durchlaufen.

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