Das Neue im Alten

Über die Aktualität des Historischen und die Notwendigkeit einer gesellschaftsoffenen Universität. Festvortrag anlässlich der Verleihung des Goldenen Doktordiploms an der Universität Wien.

Magnifizenz, Spectabilis, liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren!
Ich bin Ihnen allen sehr dankbar dafür, dass Sie den 50. Jahrestag meiner Promotion „sub auspiciis praesidentis“ zum Anlass für diese schöne Feier genommen haben. Die Gemeinsamkeit des Feierns ist wesentlich. Ich möchte sie aber auch mit einer Gemeinsamkeit des Nachdenkens über geleistete und vielleicht noch zu leistende Aufgaben in unserem Fach verbinden. Dazu ein paar Gedanken im Rückblick und im Ausblick.

Vor 50 Jahren durfte ich im selben Saal feiern. Die Bilder von damals sind mir noch sehr lebendig vor Augen: Bundespräsident Adolf Schärf, der den Promotionsring überreichte, Unterrichtsminister Heinrich Drimmel, Rektor Tassilo Antoine, Promotor Alphons Lhotsky. Ich möchte mich an sie alle heute mit großer Dankbarkeit erinnern. Auch damals durfte ich im Rahmen der Feier über mein Fach sprechen. Mein Thema war in Anschluss an meine Dissertation über karolingische Markgrafenfamilien im Südosten „Die Anfänge der österreichischen Geschichte als Problem“. Mir ging es um den europäischen Kontext der Mark im Osten im Gegensatz zu einer eher deutschnational konnotierten Konzeption der Anfänge Österreichs. Allzu kühn spannte ich im Verhältnis von Österreich zu Europa epochenübergreifend den Bogen vom Frühmittelalter ins 20. Jahrhundert: „Einheit aus gleichem Ursprung, Einheit aus gleicher Vergangenheit“. Und glaubte, aus diesem historischen Befund politische Empfehlungen für die Gegenwart ableiten zu können. Der Satz war gut gemeint. Ich wollte einen aktuellen Bezug zur eigenen Zeit herstellen. Aber er war falsch weil letztlich ideologisch. Die Geschichte erteilt keine Empfehlungen und schon gar keine Aufträge. Sie vermittelt vielmehr Wissen, aus dem für Handeln in der Gegenwart Orientierung gewonnen werden kann  - durchaus auch für Europafragen, wie sie mich viel später sehr beschäftigt haben. Was Aktualitätsbezug von Geschichte bedeutet – da musste ich seit meiner Promotionsrede gründlich dazulernen. Das Anliegen ist jedoch geblieben: Geschichtswissenschaft in Lehre und Forschung soll sich an aktuellen Fragen orientieren, soll für die Gesellschaft der Gegenwart relevant sein, soll – wenn auch in noch so vermittelter Form - „Geschichte für uns“ sein. Mit einer solchen Bewertung der Relevanzfrage von Geschichte war ich am Wiener Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte keineswegs allein. Es war schön, in der gemeinsamen Arbeit um solche Übereinstimmungen zu wissen. Aktivitäten aus einem solchen Verständnis unseres Faches wurden  1997 in einem Sammelband unter dem Titel „Wiener Wege der Sozialgeschichte. Themen – Perspektiven – Vermittlungen“ vorgestellt. Ich möchte in meinen heutigen Ausführungen diesen Titel aufgreifen. Das spezifische Verständnis von Relevanz steht dabei im Vordergrund – an einigen ausgewählten Beispielen illustriert. Wenn ich dabei „Rückblick“ und „Ausblick“ verbinde, so meine ich, dass das Bemühen um Aktualität - bei allem Wandel von Themen und Methoden – weiterhin eine leitende Richtschnur unserer fachlichen Arbeit sein sollte.

Der Aktualitätsbezug von Wissenschaft, um den es mir heute geht, realisiert sich in unterschiedlichen gesellschaftlichen Vermittlungssystemen, Austauschbeziehungen, Kommunikationskreisen. Das wichtigste dieser Austauschsysteme ist sicher das zwischen forschenden Lehrenden und Studierenden – innerhalb des jeweiligen Fachs und darüber hinaus in interdisziplinärem Kontext. Aber die Universität soll kein geschlossenes System sein, wie es das allzu häufig bemühte Schlagwort vom „Elfenbeinernen Turm“ ausdrückt. Viel an neuen Ideen, Themen, Fragestellungen von gesellschaftlicher Bedeutsamkeit kommt aus Beziehungen, die über den engeren Rahmen der Universität hinausgehen. Ich habe das jedenfalls so erlebt. Und für die „Wiener Wege der Sozialgeschichte“ waren solche umfassende Austauschbeziehungen wichtig. Mutatis mutandis mag das auch für andere Disziplinen gegolten haben bzw. in Zukunft gelten. Auf drei dieser umfassenden Vermittlungssysteme möchte ich mich heute konzentrieren:
- Universität und Schule
- Universität und Erwachsenenbildung und
- Universität im Kontext internationaler Lehrtätigkeit
Wesentlich ist mir, dass in solchen Vermittlungssystemen die Weitergabe von Ideen, Themen, Fragestellungen nicht nur in eine Richtung läuft – gleichsam als ein „trickle down“-Prozess von den „Höhen“ der wissenschaftlichen Forschung über die universitäre Lehre in die „Niederungen“ von Schule oder Erwachsenenbildung. Prozesse der Weitergabe können auch in umgekehrter Richtung laufen – als Anregung aus der Schule, aus der Lehrerfortbildung, aus dem Volkshochschulwesen. Wesentlich ist mir weiters, dass die Kommunikation in solchen Vermittlungssystemen jeweils von der Gestaltung sehr konkreter sozialer Beziehungen abhängt – etwa zwischen den Lehrenden an den AHS und an den Universitäten. Diese persönlichen Kontakte über Lehre und Forschung an den Universitäten hinaus sind für die Dynamik des akademischen Lebens wichtig. Wesentlich ist mir schließlich, dass solche Vermittlungssysteme sich auf größere gesellschaftliche Zusammenhänge beziehen, dass in ihnen Verantwortlichkeit vor einer umfassenden Öffentlichkeit besteht. Das soll mein erstes Beispiel zeigen, das sich mit dem Vermittlungssystem Schule und Universität beschäftigt.

1969 wurde das erweiterte Schulfach „Geschichte und Sozialkunde“ eingeführt. Es ging dabei um die bildungspolitisch längst fällige Integration sozialwissenschaftlicher Bildungsstoffe, für die allerdings im herkömmlichen Geschichtsunterricht keinerlei Anknüpfungspunkte gegeben waren. 1971 wurde der neue Lehrplan für das Fach „Geschichte und Sozialkunde“ eingeführt – ohne überzeugende Lösung des Problems der Verbindung von alten und neuen Inhalten. In Hinblick auf die Notwendigkeiten einer veränderten Lehrerausbildung kam es im gleichen Jahr zur Schaffung einer neuen Professur für Sozialgeschichte. Ebenso im Jahr 1971 wurde von einer Gruppe junger Assistenten und AHS-Professoren die Lehrerfortbildungszeitschrift „Beiträge zur historischen Sozialkunde“ gegründet, die bis heute besteht. Es ging darum, vom neuen Lehrplan vorgesehene sozialkundliche Themen aus historischer Perspektive zu behandeln und für den Unterricht aufzubereiten. Die erste Nummer zählt diesbezüglich programmatisch auf: Familie, Peer Groups der Jugendlichen, Gemeinde, Lokalgruppe, Nachbarschaft, informelle Gruppen etc. Um solche Themen historisch zu behandeln, war viel an wissenschaftlichem Neuland zu erschließen. Zahlreiche andere Themen kamen hinzu. Exemplarisch seien die Titel einiger Themenhefte aus den ersten Jahrgängen der Zeitschrift genannt: „Primärgruppen in der alteuropäischen Gesellschaft“, „Die Alten“, „Jugend im historischen Wandel“, „Öffentlichkeit und politische Berechtigung“, „Familie und Emanzipation“. Gerade die Familienthemen erlebten eine unerwartete Erfolgsstory. Einige Aufsätze aus den Beiträgen wurden 1979 im angesehenen Wissenschaftsverlag C.H. Beck in München unter dem Titel „Vom Patriarchat zur Partnerschaft. Zum Strukturwandel der Familie“ als Taschenbuch herausgebracht. Dieses Taschenbuch erschloss einen Leserkreis weit über die Fachwelt der Geschichtswissenschaft  hinaus. 1994 erschien es in vierter Auflage. Inzwischen lagen bereits Übersetzungen ins Englische und ins Japanische vor. Die Historische Familienforschung erlebte in den 70er Jahren einen enormen Aufschwung – wohl vor allem durch den aktuell miterlebten Wandel der Familienverhältnisse bedingt. In den USA wurde damals das „Journal of Family History“ gegründet. In England entstanden die richtungsweisenden internationalen Sammelbände der „Cambridge Group for the History of Population and Social Structure“. Und die Wiener Sozialgeschichteforschung war bei allen diesen weltweiten Unternehmungen von den ersten Anfängen an mit dabei. Es war eine schöne und wichtige Erfahrung, dass Inhalte und Darstellungsformen, wie sie für den Adressatenkreis Schule gewählt wurden, sich in der internationalen Wissenschaft als so erfolgreich erwiesen. Auch andere Themen, die in den „Beiträgen zur historischen Sozialkunde“ schon in dieser Frühphase aufgegriffen wurden, haben die „Wiener Wege der Sozialgeschichte“ nachhaltig beeinflusst - etwa die Sozialgeschichte der Jugend und des Alters. Die entscheidenden Anstöße zu solchen Arbeitsfeldern kamen nicht - wie späterhin dann häufig - aus langfristig festgelegten nationalen und internationalen Forschungsförderungsprogrammen der Wissenschaftsbürokratie, sondern aus Kontakten zwischen Universität und Schule.

Ein weiteres Beispiel soll die Bedeutung der Zusammenarbeit mit Schulen an einem anderen Themenbereich illustrieren. Am 12. September 1983 trafen sich Lehrerinnen und Lehrer an Hochschulen sowie von unterschiedlichen Schultypen am Pädagogischen Institut der Stadt Wien. Sie wollten hier nicht das Jubiläum der Türkenbefreiung von 1683 begehen, das in ganz Österreich an diesem Tag gefeiert wurde. Ihr Motiv war vielmehr die Sorge, wie sich türkische Schulkinder bei diesen Jubiläumsfeierlichkeiten fühlen würden. Aus den Gesprächen entstand ein neuartiges Konzept. Ein kommentierter Quellenband „Schmelztiegel Wien einst und jetzt“ sollte die Arbeitsgrundlage für ein Bemühen um ein besseres Verstehen von Zuwanderern und ihren Problemen im Unterricht bieten. Solches Quellenmaterial wurde in der Folgezeit an 25 Wiener Schulen – von der Sonderschule bis zur AHS – ausprobiert. Im Bereich Geschichte handelte es sich wohl um das größte Projekt zwischen Schulen und Universität überhaupt. Auch für die Wissenschaft hat es wichtige Anstöße gegeben.

Welcher Ausblick könnte solchen Blicken zurück auf Aktivitäten zwischen Universitäten und Schulen entsprechen? Vor wenigen Wochen veranstaltete die „Plattform Christen und Muslime“  eine Diskussion zum Thema „Religion im Klassenzimmer. Zu Recht wurde hier festgestellt: Religion hat über den Religionsunterricht hinaus einen wichtigen Platz im Rahmen verschiedener Schulfächer, insbesondere der Geschichte. Hier geht es eher um einen historisch-kritischen Ansatz als um einen normativ-dogmatischen, was eventuell zu Spannungen führen könnte. Umso wichtiger erscheint die Kooperation der Fächer in der Schule, aber auch zwischen Schule und Universität. In einer kulturgeschichtlich bzw. historisch-anthropologisch erweiterten Sozialgeschichteforschung gibt es inhaltliche Ansatzpunkte dafür, die allerdings ausgebaut werden müssten. In den Schulen wäre sowohl inhaltlich wie methodisch eine Menge dafür zu tun. Eine geeignete Ebene für den Austausch zwischen Schulen und Universitäten könnten interkulturelle bzw. interreligiöse Lehrerfortbildungsseminare bilden. Hochschullehrer, die dafür zur Verfügung stehen, wären hier sicher nicht nur Gebende, sondern auch Nehmende – eine interessante Chance für die Wissenschaft. Lehrerfortbildungsseminare – in welcher Form auch immer organisiert – scheinen mir als das wichtigste Scharnier im Vermittlungssystem Schule und Universität. Weit über religiöse Aspekte hinaus könnten sie für die gesellschaftliche Integration unterschiedlicher ethnischer Gruppen wichtige Themen ansprechen. Hierin liegt meiner Überzeugung nach eine besondere gemeinsame Verantwortung von Schule und Universität.

Als zweites Beispiel für Aktualisierungsmöglichkeiten von Sozialgeschichte sei das Vermittlungssystem Universität und Erwachsenenbildung angesprochen. Um zu diesem Themenkomplex überzuleiten, muss ich von einer bemerkenswerten Frau erzählen, die die „Wiener Wege“ stark beeinflusst hat – Maria Gremel, Kleinhäuslerstochter aus der Buckligen Welt, geboren 1900, die als Rentnerin in hohem Alter – für ihr Herkunftsmilieu damals ziemlich untypisch – eine eindrucksvolle Autobiographie verfasst hat. Im Sommersemester 1982 lief am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte ein Seminar über den Wandel von Familien- und Alltagsleben im ländlichen Raum.  In dieses Seminar brachte ein Teilnehmer  die Autobiographie der Maria Gremel. Die überzeugende Wirkung dieses Manuskripts setzte sich rasch auf verschiedenen Ebenen fort. In einem Anschlussseminar unter dem Titel „Ich kam vom Land in die Stadt“ an der Volkshochschule Ottakring machte Maria Gremel selbst mit. Es entstand aus diesem Kreis das so genannte „Modell Ottakring“ in Verbindung von lebensgeschichtlichem Erzählen und Schreiben in der Erwachsenenbildung. Der Böhlau Verlag unternahm es, das ungewöhnliche Manuskript zu publizieren. Auf eine Rundfunksendung mit Maria Gremel folgte ein Auftritt in einer beliebten Fernsehsendung mit großer Breitenwirkung. Wenige Tage später waren ihr Bild und ihr Buch auf der Titelseite der „Kronenzeitung“. Mit einem Empfang bei Bundespräsident Kirchschläger erreichte diese Erfolgsgeschichte ihren Höhepunkt.

Die fachlichen Auswirkungen  von Maria Gremels Buch „Mit neun Jahren im Dienst. Mein Leben im Stübel und am Bauernhof“ waren vielfältig. Verschiedene Initiativen entstanden auf dieser Grundlage:

- Zunächst die „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte mit heute über 3000 Selbstzeugnissen - vorwiegend von Autorinnen. Viele von ihnen sind dem Beispiel Maria Gremels gefolgt. Autobiographie-Schreiben war bisher ein Oberschichtenphänomen – von Politikern, Künstlern, Professoren. Wenn nun Frauen und Männer aus ganz anderen sozialen Schichten zu schreiben begannen und mit ihrer Lebensgeschichte auch weithin Beachtung fanden, bedeutete das einen wichtigen Schritt der Emanzipation. Der Begriff „Geschichte von unten“ wird hier wohl zu Recht gebraucht. Die „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“, die so entstand, ist ein ungewöhnliches Archiv, das auf sehr unterschiedlichen Gebieten neuartige Quellen zur Verfügung stellt. Ein Beispiel aus der Frühzeit der Sammlung: 1986 folgten Dutzende Autorinnen und Autoren einem Schreibaufruf zum Thema „Elektrifzierung“. Dieses Thema wurde bis dahin primär technikgeschichtlich behandelt. In der lebensgeschichtlichen Perspektive erhielt es eine ganz neue Dimension. Der Sammelband „Als das Licht kam“, der aus diesem Schreibaufruf entstand, erschließt eine grundlegende Veränderung alltäglicher Lebenswelten. Auch in der Auswertung des Materials ergaben sich Möglichkeiten, neuen gesellschaftlichen Entwicklungen in der Wissenschaft Rechnung zu tragen – der Frauengeschichte etwa oder der Umweltgeschichte.

- Dann die Editionsreihe von Texten der popularen Autobiographik „Damit es nicht verlorengeht…“ -  in Anschluss an Maria Gremels Autobiographie bisher 62 Bände umfassend. Titel wie „Hände auf die Bank. Erinnerungen an den Schulalltag“, „Es war eine Welt der Geborgenheit. Bürgerliche Kindheit in Monarchie und Republik“, „Auf der Walz. Erinnerungen böhmischer Handwerksgesellen“, „Was auf den Tisch kommt, wird gegessen. Geschichten vom Essen und Trinken“, „Schade um all die schönen Stimmen. Erinnerungen an Musik im Alltagsleben“, „Faszination des Fahrens. Unterwegs mit Fahrrad, Motorrad und Automobil“. „Beichten. Autobiographische Zeugnisse zur katholischen Bußpraxis“ zeigen das breite Spektrum hier behandelter Themen. Solche Themen weisen – im Gegensatz zu einer älteren, eher strukturgeschichtlich ausgerichteten Prägung des Faches - in die Richtung einer stark lebensweltlich orientierten Sozialgeschichte. In der Bildungsarbeit wurden diese Bände vielfältig eingesetzt und haben viele Menschen zur Reflexion eigener und fremder lebensgeschichtlicher Erfahrungen angeregt. Zu einer institutionalisierten Form der Arbeit mit popularer Autobiographik kam es in Schreib- und Erzählreisen nach dem „Modell Ottakring“.

- Schließlich sind Rundfunkreihen zu alltagsgeschichtlichen Themen in Anschluss an die mit Maria Gremel begonnene Arbeit zu nennen. Das interaktive Schema von Lesung aus einer Lebensgeschichte, wissenschaftlichem Gespräch darüber und anschließender Gelegenheit zu Anrufen von Hörerinnen und Hörern erwies sich weiterhin als nützlich. Die Zusammenfassung zu einem österreichweiten „Medienverbundprogramm Alltagsgeschichte“ stellte den Höhepunkt solcher Bemühungen im Rahmen der Erwachsenenbildung dar. Dass sich Alltagsgeschichte als eine anerkannte Disziplin durchsetzen konnte, wurde sicher nicht unwesentlich durch solche Initiativen beeinflusst. Den „Wiener Wegen der Sozialgeschichte“ verliehen sie einen spezifischen Akzent.

Viele der genannten Aktivitäten laufen weiter. Dabei haben sich neue Schwerpunkte ausgebildet, die sicher Zukunft haben. Das gilt etwa für den Einsatz von lebensgeschichtlichem Schreiben und Erzählen in der Altenarbeit. Nicht alle Versuche des Ausbaus waren freilich erfolgreich. Lebensgeschichtliche Arbeit als Bildungselement auf dem Weg der Integration von Migranten, wäre mir ein großes Anliegen. Als systematische Aktivität ist das bisher noch nicht gelungen. Vielleicht ist die Zeit dafür noch nicht reif.

Mein drittes Beispiel eines über die eigene Universität hinausgehenden Vermittlungssystems betrifft akademische Lehre in internationalem Kontext. Dass ein solches Überschreiten Innovation und Aktualität bewirken kann, erscheint ziemlich selbstverständlich und keineswegs als eine Besonderheit von „Wiener Wegen der Sozialgeschichte“. Man geht nach Paris oder London oder gar in die USA. Man knüpft dort wissenschaftliche Kontakte. Und man weiß dann, wie sich Mainstream-Wissenschaft weiter entwickelt. Ich möchte diesem „Go west“ ein „Go east“ gegenüberstellen. Nach 1989 war westliche Wissenschaft an den Universitäten in Ost- und Südosteuropa sehr gefragt. Das galt auch für neue Wege der Sozialgeschichte, insbesondere für die Historische Familienforschung. Bei vielen dieser Einladungen ging es durchaus konventionell zu. Es gab aber auch bemerkenswerte Ausnahmen. Eine solche erlebte ich bei den „Winter Balkan Meetings“. Sie fanden in der Kleinstadt Bansko im Pirin-Gebirge und später dann in Blagoevgrad in Bulgarisch-Mazedonien statt. Die Teilnehmer kamen einerseits aus Bulgarien und anderen Balkanländern, andererseits aus Wien und Graz. Zeitweise wurde ein Graduiertenkolleg dieser beiden Universitäten in die Meetings eingebunden. Auf die Dauer von acht bis zehn Tagen lebte man während der Lehrveranstaltungszeit und darüber hinaus zusammen. Unvergesslich bleibt mir die Antwort eines bulgarischen Ethnographen am Rande der Veranstaltung auf meine Frage nach seinem derzeitigen Forschungsthema: „Erscheinungen von Heiligen in Träumen von Studenten“. Auf meinem Wiener Erfahrungshintergrund war mir ein solches Thema sehr fremd. Eine bulgarische Kollegin konnte den Kulturunterschied aus Praktiken ostkirchlicher Ikonenfrömmigkeit plausibel erklären. Auf Schritt und Tritt begegneten wir solchen Differenzen  in Lebenswelt und Wissenschaftskultur. An ihnen komparativ zu arbeiten, war eine spannende Angelegenheit.  Bewusst wurde die jeweilige Themenwahl den bulgarischen Kolleginnen und Kollegen überlassen und damit die jeweilige Aktualität für die Gastgeber respektiert. Bei Themen wie „Gabe und Schatz“ oder „Ahnen und Vorläufer“ suchte man in der westlichen Literatur vergeblich nach Entsprechungen. Umso mehr Einsichten stellten sich ein, wenn man aus westlicher Perspektive einen Zugang versuchte. Inhaltlich und sozial war aus diesen Wissenschaftsgesprächen viel zu lernen – vor allem auch, wie bereichernd es ist, sich auf Wissenschaftskulturen einzulassen und sie zu respektieren, die außerhalb des Mainstreams liegen. Wissenschaftliche Netzwerke, wie sie durch die „Winter Balkan Meetings“ geknüpft wurden, leben in vielfachen Zusammenhängen weiter.

Für mich persönlich war der wichtigste Gewinn, interkulturelles Vergleichen durch Mitleben in einer fremden Wissenschaftskultur exemplarisch zu erlernen. Ich denke, in späteren Arbeiten an solche interkulturell Vergleiche ertragreich angeknüpft zu haben – durchaus auch bezüglich anderer Kulturräume. Im Ausblick auf die Weiterentwicklung unseres Faches scheint mir der Kulturvergleich eine besonders wichtige Zugangsweise. Bis hin zu globalgeschichtlichen Ansätzen ist er unverzichtbare Basis.

Die drei hier skizzierten Vermittlungssysteme zwischen dem eigenen Hochschulfach und außeruniversitären Bereichen stellen sicher nur einen schmalen Ausschnitt aus möglichen Austauschbeziehungen dar, die für eine Aktualisierung von Wissenschaft wichtig sein können. Manche der dargestellten Aktivitäten waren von einmaligen Konstellationen abhängig – von persönlichen Begegnungen, von unwiederholbaren Situationen. Trotzdem lassen sich – so glaube ich – allgemeine  Gedanken aus ihnen ableiten, die grundsätzlich für eine an Aktualität, an Gegenwartsbezug, an gesellschaftlicher Relevanz interessierte Wissenschaft zutreffen.

Ein erstes Prinzip der Aktualisierung lautet für mich: Hinausgehen. Hinausgehen nicht nur im Sinne der klassischen „peregrinatio academica“ von Universität zu Universität, sondern auch in gesellschaftliche Felder, die dem akademischen Leben weniger vertraut sind – ins Bergbauerndorf, in die Migrantenfamilie, ins Altersheim. Dieses Hinausgehen gilt für Lehrende und Studierende in gleicher Weise, wie ich am „Modell Ottakring“ zu illustrieren versucht habe. Schule und Erwachsenenbildung sind diesbezüglich sicher besonders wichtige Bereiche. Aber auch andere Praxisfelder könnten eine solche Bedeutung gewinnen. Eine gesellschaftsoffene Universität wird sich immer wieder von neuem auf solche Praxisfelder zu beziehen haben.

Als eine zweite Voraussetzung aktuell bezogener Wissenschaft möchte ich den sozialen Kontext nennen. Alle die genannten Aktivitäten waren mir nur auf der Basis einer vertrauensvollen Zusammenarbeit mit engagierten Freunden, Kollegen, Mitarbeitern möglich.  Egalität muss vor Autorität, Solidarität vor Konkurrenz den Vorrang haben, wenn man sich gemeinsam um eine gesellschaftsrelevante Wissenschaft bemüht. Und auch mit den Partnerinnen und Partnern im außeruniversitären Milieu scheint mir ein entsprechendes soziales Klima wichtig. Dass wir von unseren Bergbäuerinnen, Kleinhäuslern, Hebammen, Dienstmädchen, Holzknechten so viel lernen konnten, hat wohl auch mit sozialer Empathie zu tun.

Ein drittes Erfordernis für eine um Aktualität bemühte Wissenschaft sind meiner Überzeugung nach freizügige Arbeitsbedingungen. Ich selbst habe sie stets genossen – vor allem unter Alfred Hoffmann als Institutsvorstand, dessen Liberalität die „Wiener Wege der Sozialgeschichte“ enorm viel verdanken. Er ließ nicht nur gewähren, sondern ermutigte auch zu neuen Themen, neuen Methoden, neuen Formen der Lehre. Es ist nun schon fast ein halbes Jahrhundert her, dass er das Wiener Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte  übernommen hat. Der Geist der Liberalität, der Offenheit, der Veränderungsbereitschaft, der damals grundgelegt wurde, scheint mir eine Voraussetzung dafür, dass „Wiener Wege der Sozialgeschichte“ weiterhin innovativ und gesellschaftsbezogen fortgesetzt werden. Und das wünsche ich meinem Institut von ganzem Herzen.

MICHAEL MITTERAUER

Geboren 1937 in Wien. Emeritierter Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien. Herausgeber der von ihm begründeten Buchreihe „Damit es nicht verloren geht“. Sein Text gibt den Festvortrag anlässlich der Verleihung des Goldenen Doktordiploms an der Universität Wien wieder.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.03.2010)

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