Und sie fliegt doch!

Wer waren die ersten erfolgreichen Motorflieger? Die Brüder Wright, heißt es offiziell. Stimmt aber nicht. Der Deut- sche Gustav Weißkopf war zwei Jahre früher in der Luft. Eine Recherche.

Wer sich für das Flugwesen interessiert, wird die Frage nach demersten erfolgreichen Motorflieger schnell beantworten können: Die Brüder Orville und Wilbur Wright hatten 1903 in Kitty Hawk, North Carolina, USA, das lange ersehnte Ziel erreicht! Am 17. Dezember gelang Orville ein Flug von 37 Meter Länge und bis zu drei Meter Höhe mit einer Maschine „schwerer als Luft“; Wilbur und Orville verlängerten noch am selben Tag ihre Flugdistanz auf über 60 Meter. Der vierte Flug ging zwar über 260 Meter, wurde aber durch einen Windstoß unsanft und unter leichter Beschädigung des Apparates beendet.

Von diesen historischen Tatsachen begeistert, nutzte ich die erstbeste Gelegenheit, den Originalschauplatz zu besuchen. Im Jahr 2001 war ich beruflich in Virginia und mietete ein Auto, um zum nicht allzu weit entfernten Kitty Hawk zu fahren. Kaum verwunderlich, dass dort ein regelrechter Tourismusbetrieb aufgebaut wurde, ist doch der Bundesstaat North Carolina mit Recht so stolz auf diesen Ort, dass er – nach üblichem Brauch der USA – auf die Nummerntafeln seiner Kraftfahrzeuge unter „North Carolina“ auch „First in Flight“ prägen lässt.

Im Oktober 2006 war ich im schönen bayrischen Altmühltal und erfreute mich der anmutigen Gegend. So kam ich in ein kleines, mir völlig unbekanntes Städtchen namens Leutershausen. Zu meiner Überraschung zierte die Einfahrt ein großes Denkmal, das ein urtümliches Fluggerät, ein wenig künstlerisch verfremdet, darstellte. Es war dem „Flugpionier Gustav Weißkopf“, dem großen Sohn der Stadt, gewidmet. Da ich niemals von einem Flugpionier Gustav Weißkopf gehört hatte, begann ich mich dafür zu interessieren. Tatsächlich entdeckte ich im Zentrum des Städtchens ein Museum, das ihm gewidmet war.

Mein Erstaunen war beträchtlich! Hieß esdoch in den Unterlagen, dass Weißkopf schon im Jahr 1901 – also deut-
lich vor den Gebrüdern Wright – geflogen war. Das im Museum ausgestellte Modell – der Nachbau des Fluggerätes von Weißkopf mitder Nummer 21 – machte einen soliden Eindruck, mehr konnte ich freilich beim bloßen Betrachten nicht feststellen.

Meine nächste Frage war, wo denn dieser Erstflug in der Geschichte der Menschheit stattgefunden haben soll. Nun, Gustav Weißkopf ist 1895 im Alter von 21 Jahren in die Vereinigten Staaten ausgewandert. Er landete in Boston, fügte seinem Vornamen ein „e“ an und anglisierte seinen Nachnamen. Als Gustave Whitehead kam er schließlich 1900 nach Bridgeport im Staat Connecticut. Dort baute er sein Fluggerät mit der Nummer 21, dort soll auch sein Erstflug stattgefunden haben, am 14. August 1901! Immerhin brachte die Zeitung „Bridgeport Sunday Herald“ am 18. August 1901 einen ganzseitigen Artikel über den Erstflug. Der Reporter dieser Zeitung, Dick Howell, war selbst dabei anwesend und konnte als Augenzeuge verlässliche Angaben machen.

Ich war nicht nur verblüfft, auch ein wenig verunsichert. Sollte es möglich sein, dass die ganze Welt getäuscht wird über den ersten gelungenen Motorflug? Aber die Geräte im Museum zu Leutershausen und die dort aufliegenden Dokumente konnten wohl nicht allesamt Scherz oder gar Täuschung sein! Also beschloss ich, bei nächster Gelegenheit die Stadt Bridgeport zu besuchen und dort ein wenig nachzuforschen.

Im Mai 2009, anlässlich eines Aufenthaltes in Neuengland, fuhr ich mit einem Mietwagen nach Bridgeport und ließ mich in einem Hotel im Stadtteil Fairfield nieder. Am Morgen des 26. Mai, nach meiner ersten Übernachtung, musste ich mir einen Plan machen, wie ich vorgehen sollte. Ich entschloss mich, zunächst zur Universität zu fahren.

Leider musste ich feststellen, dass die University of Bridgeport gerade in den Ferien war. Ich parkte vor einem großen Gebäude und ging zur – verschlossenen – Tür. Glücklicherweise kam zufällig innen ein Mann vorbei, der mich sah und – wie das im freundlichen Amerika fast selbstverständlich ist – die Tür aufschloss. Leider befand ich mich im „Department of Music“. Eine junge Kollegin bat mich in ihr Büro; als sie mein Anliegen hörte, sah sie mich etwas skeptisch an, vermutlich meinte sie, es mit einem Verrückten zu tun zu haben. Ich sagte ihr, sie solle doch einfach in ihrem Computer bei Google Whitehead und Bridgeport eingeben, um zu sehen, dass ich nicht Irrlichtern nachlaufe. Sie blieb freundlich, tat es aber nicht. Ich sagte ihr, ich käme aus Wien und unterhielt mich längere Zeit mit ihr über Beethoven und Schubert. Erst dann ging sie zu ihrem Computer und googelte. Sofort wurden fast 75.000 Eintragungen ausgeworfen! Sie begann zu lesen, und ihr Gesicht wirkte immer erstaunter. Nun verstand sie auch, was ich wollte. Ich bat sie, mir den Weg zum Physics Department zu zeigen.

Wie bei Physikern üblich waren dort die Türen nicht verschlossen; ich konnte ungehindert eintreten, fand aber zunächst niemanden vor. Nach einigem Suchen traf ich am Gang eine Sekretärin. Auch sie wusste nichts von Whitehead, aber sie führte mich in ein Büro, in dem eine Studentin am Terminal saß. Gemeinsam widmeten sich die beiden nun meinem Problem, sie wollten mir unbedingt helfen. Sie empfahlen mir, die „Bridgeport Public Library Historical Collections“, die große Stadtbibliothek, aufzusuchen, und hatten bald einen Ausdruck mit einem Plan des entsprechenden Stadtteils produziert.

Zur Ehrenrettung der University of Bridge-port muss ich anfügen, dass die Damen mein Problem und meine Visitenkarte weitergegeben haben. Noch bevor ich Bridgeport verließ, erhielt ich eine E-Mail eines Kollegen aus dem English Department, Eric D. Lehman; er schrieb: „Ich bedaure, dass ich Sie gestern an der University of Bridgeport nicht getroffen habe. Ich habe vor Kurzem ein Buch geschrieben mit dem Titel „Bridgeport: Tales from the Park City“, und eines der Kapitel ist Gustave Whitehead gewidmet.“

Ich fuhr also zur Bibliothek, nur um festzustellen, dass bereits Mittagspause war. Die Zeit wollte ich nicht nutzlos verstreichen lassen, so fuhr ich zum Sikorsky Memorial Airport. In einem Nebengebäude war eine Flugschule untergebracht,und dort wollte ichmein Glück versuchen. Als ich eintrat, kam mir ein Herr – dem Aussehen nach ein Fluglehrer – entgegen und fragte mich: „Can I help you?“ (im Amerikanischen die übliche Höflichkeitsform für „Was wollen Sie hier!“). Ich brachte ihm mein Anliegen vor, erklärte, dass wohl in dieser Stadt ein gewisser Gustave Whitehead vor den Brüdern Wright geflogen sei und dass mich das interessiere. Er hörte sich alles wortlos an und sagte nach Art alter Flughasen, die kein Wort zu viel verlieren, einfach: „Correct!“. Dann nahm er einen Zettel, schrieb darauf „Andrew Kosch“ und die Adresse einer Schule und sagte: „This man knows everything about him!“ (Dieser Mann weiß alles über ihn.)

Ich bedankte mich und war glücklich, dass mein Suchen nun wenigstens zu einem ersten Erfolg geführt hatte. Die Bibliothek brauchte ich nun nicht mehr zu besuchen. Ich fuhr also zu der angegebenen Schuladresse und fand dort eine typische amerikanische Highschool. Im Sekretariat waren die Damen sehr freundlich, und als ich nach Andrew Kosch fragte, wussten sie offenbar, was ich wollte, er war sicher eine der bekanntesten Persönlichkeiten dieser Schule. Ich musste einige Zeit warten, aber dann betrat er den Raum: ein untersetzter, freundlicher Herr mit leichtem Übergewicht. Als er hörte, was ich suchte, war er sofort hellauf begeistert. Er war es nämlich, der den Nachbau der „Nummer 21“ geflogen hatte, der sein Leben ganz dem Ziel gewidmet hatte, Gustave Whitehead die gebührende Ehre in der Geschichte des Fliegens zu verschaffen.

Andy war Biologielehrer und musste noch unterrichten. Er fragte mich nach meinem Hotel, und als er erfuhr, ich sei in Fairfield untergebracht, war er gleich noch begeisterter. Dort hatte nämlich Gustave Whitehead ab 1905 sein Quartier, und dort hatte er auch seine Flüge unternommen. Fast selbstverständlich, dass auch Andy dort wohnte. Er wolle nach seinem Unterricht zu mir ins Hotel kommen, sagte er, ich solle inzwischen das Discovery Museum besuchen, dort war gerade eine Ausstellung über Gustave Whitehead. Sie sei zwar schon abgebaut und im Keller lagernd, wenn ich aber sagte, ich käme von Andy Kosch, würde man mir die Objekte gerne zeigen.

Also fuhr ich zum Discovery Museum. Ich parkte mein Auto und ging zum Eingang, zweifelnd, ob ich die abgebaute Ausstellung doch noch sehen könnte. Aber am Portal wartete schon ein freundlicher junger Mann, der mich sofort ansprach und fragte, ob ich der sei, den Andy Kosch geschickt hätte. Als ich bejahte, zeigte mir der junge Mann alles, was ich sehen wollte. Besonders aufschlussreich war ein Kurzfilm, der auch die Flüge von Andy Kosch mit dem Nachbau der Nummer 21 zeigte. So erfuhr ich auch den Grund, den man zumindest in Bridgeport angibt, warum die Wright-Brüder den gesamten Ruhm als Erstflieger zugesprochen bekommen.

Demnach waren die Brüder Wright wesentlich besser in ihrer Öffentlichkeitsarbeit und – so die Meinung in Bridgeport – nicht immer ganz den Tatsachen verpflichtet. Sie waren offenbar zwischen 1900 und 1903 mehrmals in Bridgeport bei Gustave Whitehead, haben aber diese Kontakte immer geleugnet. Erst viel später wurde die Frage, wer der erste Motorflieger war, wissenschaftlich interessant. Nach dem Tod von Wilbur Wright im Jahre 1912 bemühte sich Orville um diese öffentliche Anerkennung, für die in erster Linie das berühmte Smithsonian Institut in Washington zuständig war. Dieses lehnte aber Ende der Zwanzigerjahre die gewünschte Anerkennung ab, sodass der sogenannte „Flyer I“, das Erstgerät der Brüder Wright, an das Museum of Science in London verliehen wurde. Offenbar um dieses wertvolle Ausstellungsstück zu erhalten, wurde im Jahre 1942 die Anerkennung seitens des Smithsonian Instituts erteilt und der Flyer I nach Washington gebracht. Sicher hat dabei der Zweite Weltkrieg eine psychologisch wichtige Rolle gespielt, waren doch die Brüder Wright Nachkommen von Einwanderern der ersten Generation, während Gustave Whitehead nie um die amerikanische Staatsbürgerschaft angesucht hat.

Der Preis für die Übersiedlung des Flyer I war jedoch hoch. Nicht finanziell, Orville Wright verlangte nur den symbolischen Preis von einem Dollar; aber das Smithsonian Institut musste einen Vertrag unterzeichnen, in dem es hieß: „Weder die Smithsonian Institution oder deren Nachfolger, noch jegliches von der Smithsonian Institution oder deren Nachfolger für die Vereinigten Staaten von Amerika verwaltete/s Museum oder Agentur, Amt oder Abteilung darf öffentlich bekannt machen oder eine Erklärung oder eine Aufschrift in Verbindung mit oder in Bezug zu einem Flugzeugtyp oder -entwurf mit einem früheren Datum als dem des Wright-Flugzeuges von 1903 mit der Behauptung versehen, dass dieses Flugzeug in der Lage war, einen Menschen unter eigener Kraft im kontrollierten Flug zu tragen.“ Andernfalls würde der Flyer I wieder an die Wright-Erben zurückfallen.

„Geschichtsschreibung durch Vertrag“ wird das in Bridgeport genannt. Noch viele andere Einzelheiten und Episoden wurden mir beim Betrachten des Films und beim Gang durch das Discovery Museum erzählt, mein Eindruck war ganz deutlich, dass hier ein Mann um seinen Verdienst gebracht worden war.

Am Nachmittag kam – wie verabredet – Andy Kosch zu mir ins Hotel. Wir unterhielten uns lange Zeit über den Nachbau der Nummer 21 von Gustave Whitehead (die sogenannte „Nummer 21A“). Dann fuhren wir mit dem Auto durch die Gegend, in der Gustave Whitehead mit seinen Fliegern gefahren war. Ja, gefahren! Denn ein wesentlicher Unterschied zum Flyer I der Brüder Wright war der Zusatzmotor, der die Räder antrieb. Während die Brüder Wright gar keine Räder an ihrem Modell hatten, also auf Kufen starten mussten, konnte Whitehead die schwierige Phase der Beschleunigung aus dem Stand mit seinem Antriebsmotor viel schneller bewältigen.

Whitehead konnte auch die Flügel seines Gerätes einfalten, sodass er ein durchaus straßentaugliches Gefährt zum Startplatz fuhr. Wegen des beträchtlichen Lärms und Gestanks allerdings sehr zum Missfallen der Anrainer. Andy Kosch erzählte mir alle diese Details, er schien fast wie eine Reinkarnation des ersten Motorfliegers.

Wir kamen schließlich zu jenem Werkschuppen, in dem die Nummer 21 nachgebaut worden war. Der Enthusiasmus und die Hingabe von Andy Kosch beeindruckten mich zutiefst. Es ging doch vor allem darum, die Behauptung der Anhänger der Wright-Brüder zu widerlegen, dass Whiteheads Flieger nicht flugtauglich war.

Zunächst wurde das Flugzeug auf einem Anhänger locker montiert und von einem PKW gezogen. Bei etwa 60 Stundenkilometern hob das Flugzeug tatsächlich ab und wurde nur mehr durch die Leinen gehalten. Nun konnte es Ernst werden. Am 7. Dezember 1986 stieg Andy Kosch in das Gerät und startete die Motoren. Nicht einmal 100 Meter brauchte das Flugzeug, um abzuheben und in einigen Metern Höhe etwa 30 Meter zu fliegen. Nach der sanften Landung war es gewiss: Die Nummer 21A war flugtauglich! Noch fast ein Viertel Jahrhundert später spürte ich bei unseren Gesprächen die Erregung und Genugtuung, die Andy Kosch bei diesem Flug erlebt haben muss.

Für Andy Kosch und seine Begleiter ist damit eindeutig bewiesen, dass Gustave Whitehead der erste erfolgreiche Motorflieger war. Nach ihrer Meinung ist einfach zu viel Geld im Spiel, um eine offizielle Anerkennung zu erreichen. Schließlich müsste das Smithsonian Institut den Flyer I aus seiner Sammlung entfernen und den Erben der Wrights zurückerstatten; und Kitty Hawk würde seine Attraktion als Touristenziel einbüßen. Besonders optimistische Bürger von Bridgeport träumen sogar davon, dass der Zusatz „First in Flight“ auf den Nummerntafeln von North Carolina nach Connecticut wandern könnte. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.04.2010)

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