Wozu Bildung?

Unser Erkennen steht auf sehr wackeligen Beinen. Wir haben nie alle wichtigen Informationen parat. Der Menge nach verfügen wir andererseits oft über viel zu viele. Wie eine Ordnung in dieses „Gewühl unserer Sinne“ bringen? Bildung für eine wache Zeitgenossenschaft: ein Plädoyer.

Weltanschauungen zerfallen, Autoritäten schwinden. Gewissheiten sind rar geworden. Biografien werden instabil. Definierte Zugehörigkeiten zu Familie, Klasse, Kirche, Region haben ihre identitätsstiftende Kraft verloren. Selbstautorisierte Individuen stehen vor der Aufgabe, die Welt und die eigene Biografie selbst und stets neu zu erfinden.

Nach wie vor ist das Individuum allerdings auf Gemeinschaft angewiesen. Formen gemeinsamer Praxis können, ja müssen heute sogar neu erschaffen werden. Das gilt für private Lebens- und Liebesgemeinschaften ebenso wie für Kooperationen in der Arbeitswelt oder im politischen Feld.

Unser Auflösungszeitalter wird vielseits als Bedrohung erlebt. Die Zumutungen neuer Freiheit machen den Menschen oft Angst. Eine Welt traditioneller Sicherheit geht unter, die sich in Krisen allerdings oft genug als Schimäre erwiesen hat. An ihre Stelle könnte die demokratische Kultur eines rechtlich sanktionierten Individualismus für alle treten, charakterisiert durch Vielstimmigkeit, auch durch Dissens.

Große Chancen einer neuen Freiheit werden konterkariert durch die Gefahr der Vereinnahmung. Die verschiedensten Lobbys suchen den Zugriff auf das Individuum. Eine „Kultur- und Bewusstseinsindustrie“, Medien, Kommerz und Propaganda lenken das Subjekt von eigenen Interessen ab und trüben den Blick auf die Realität. Eine weitgehend monopolisierte Kommunikationsindustrie produziert neue große Erzählungen, lenkt unsere Köpfe und organisiert unsere sozialen Beziehungen. Zudem werden unter dem Slogan „Individualisierung“ da und dort die philosophischen Fundamente des Wohlfahrtsstaates untergraben, „Selbstverantwortung“ wird als Killerphrase missbraucht, um Opfer strukturellen Marktversagens zu tadeln.

Die Globalisierung der Wirtschaft führt zu globalen Völkerwanderungen. Das bedeutet viele verschiedene Weltanschauungen und Lebensweisen nebeneinander, miteinander, gegeneinander. Die Zugehörigkeit zu verschiedenen Kulturen begründet unterschiedliche Zugänge zu Bildung und Wohlstand. Das erschwert gegenseitiges Verstehen und Respektieren.

Die beschriebenen gesellschaftlichen Konstellationen stellen hohe Anforderungen an die Menschen, für die sie wenig vorbereitet sind. Als Resultat breiter Verunsicherung nehme ich in vielen gesellschaftlichen Feldern Regressionstendenzen wahr. Überwunden geglaubte Bilder von der Welt leben wieder auf mit entsprechend antiquierten Heilsvorstellungen.

So nimmt der Autoritarismus in Österreich wieder zu. Seriösen Studien zufolge sind 20 Prozent der Österreicher der Idee eines „starken Führers“ oder „starken Mannes“ anstelle des Parlaments nicht abgeneigt. 40 Prozent sind der Meinung, „das Wichtigste, was Kinder lernen müssen“, sei Gehorsam. Bücher über schwarze Pädagogik (etwa Bernhard Buebs „Lob der Disziplin“, jüngst Amy Chuas „Die Mutter des Erfolgs“) boomen. Sie verheißen uns, Disziplin und Erfolg lasse sich durch das Brechen des Willens der Erziehungsobjekte sicherstellen.

Besonders im Wachsen ist ein Autoritarismus gegenüber den Ausgeschlossenen. Ausländerfeindlichkeit und Ressentiments gegen sozial Deklassierte steigen. Anton Pelinka spricht vom „Insularismus“ der Österreicher: Selbstgerechtigkeit, naive, unkritische Haltung zu sich selbst, verbunden mit einer ebenso naiven, überkritischen Haltung gegenüber allem, was anders ist.

Auch Mythen derGeschlechterdifferenz leben auf. Bemühungen mehren sich, „männlich“ und „weiblich“ wieder deutlicher zu konturieren, Unterschiede neu zu konstruieren, Ungleichheit zu sentimentalisieren und als schicksalsrelevant festzuschreiben. Trendforschende sprechen vom „Re-Design der Geschlechter“.Ein Gendiskurs und die verschiedenen Spielarten der Evolutionstheorie verlegen die Verantwortung für menschliches Tun von der Großhirnrinde wieder einmal in die Erbkoordinaten.

Ebenso lässt die politische Demagogie unserer Volksvertreter vermuten, sie hielten die Wählerinnen und Wähler nicht für vernunft- und moralfähig. Die Medien assistieren in diesem Sinne. Bürgerinnen und Bürger werden mit unendlich vielen Informationen gefüttert, aber mit erstaunlich wenigen, die für das Verstehen gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Funktionsprinzipien essenziell wären. Zur Interpretation all der unübersichtlichen atmosphärischen Partikel bedarf es dann diverser Interpreten, die sie in überschaubare Glaubenssätze überführen. „Diese Dialektik aus wenigen einfachen Glaubenssätzen und zahllosen kompliziert zu interpretierenden Botschaften war schon immer das Erfolgsgeheimnis der Weltreligionen“, sagt Robert Menasse.

Es wird in Zukunft darum gehen, den Menschen Autonomie zuzumuten und gleichwohl auf ihre Gemeinschaftsfähigkeit zu setzen. Doch welche Mentalitäten brauchen Menschen, um vor den Zumutungen der Freiheit nicht zurückzuschrecken, sich vielmehr effektiv in die eigenen Angelegenheiten einzumischen? Ich meine: Selbstdenken, Eigensinn, Versiertheit in der Dynamik sozialer Systeme, Motivation durch eine autonome Moral, Sprachmacht, Humor.


Selbstdenken.Es gibt gute Gründe, das eigene Hirn einzuschalten. Unsere Wahrnehmung ist selektiv, unser Gedächtnis unzuverlässig, unsere Denkoperationen sind oft unzulänglich. Peter R. Hofstätter hat zwischen „Dummheit erster Art“ und „Dummheit zweiter Art“ unterschieden. Dummheit erster Art nannte er, wenn wir keine Muster, Regeln oder Handlungsmöglichkeiten erkennen, wo sich grundsätzlich welche finden ließen. Von Dummheit zweiter Art sprach er, wenn wir Muster oder Bedeutungen wahrnehmen, wo gar keine existieren. Das kommt häufiger vor, als wir glauben. Unser Gehirn ist nämlich ein Geschichtengenerator, es produziert laufend Bedeutungen.

Dabei ist unser Verstand einerseits auf brillante Weise unkreativ. Wir nehmen vor allem wahr, was uns vertraut ist. Brillant ist das deshalb, weil wir oft bereits anhand weniger Anhaltspunkte imstande sind, uns zu orientieren. Wenn Menschen sich nicht auffällig verhalten, gehen wir beispielsweise davon aus, dass sie sich an die Straßenverkehrsordnung halten werden. Man kann sich aber auch sehr täuschen! Auf der anderen Seite ist unser Verstand oft überkreativ. Er konstruiert mitunter nicht nur Regeln, wo keine sind, er erfindet auch noch Geschichten, die diese Regeln plausibel erscheinen lassen. Wir können uns oft nicht mit der niederschmetternden Bedeutungslosigkeit der Realität, etwa mit unserer Rolle darin, abfinden. Dann erzählen wir uns Geschichten, die uns guttun – zumindest im Augenblick. Unser Bedeutungshunger macht uns geneigt, vielerlei Nonsens Plausibilität abzugewinnen. So zählen sich in Österreich Arme zur Mittelschicht und die präkarisierte, schwindende Mittelschicht rechnet sich zu den Reichen – so wie sich 80 Prozent der Autofahrer zu den zehn Prozent besten zählen.

Unser Erkennen steht also auf sehr wackeligen Beinen. Wir haben nie alle relevanten Informationen parat. Oft haben wir hingegen viel zu viele. Einige davon sind uns zudem gar nicht willkommen. So bringen wir eine sehr egozentrische Ordnung in das „Gewühl unserer Sinne“. Sie hängt von unserer Biografie ab, von unserer Lerngeschichte, von unserer Psychodynamik, von unserem Wissen – und, das ist der springende Punkt, vom Verfügen über Denkoperationen, mit denen wir unsere Intuitionen prüfen können. Eine wichtige Prüfoperation ist zum Beispiel das Aufklären von Emotionen. Mit Robert Musil sei angemerkt: „Wir haben nicht zu viel Intellekt und zu wenig Seele, sondern zu wenig Intellekt in Angelegenheiten der Seele.“

Eine weitere wichtige Reflexion betrifft das Verhältnis von Erzählungen und Zahlen – ich breche eine Lanze für die Mathematik. Wenn etwa Bildungspolitikerinnen beteuern, die Hälfte aller Maturantinnen und Maturanten komme aus der Hauptschule, und damit suggerieren wollen, die Chancen zu maturieren seien in HS und AHS gleich, dann sollten wir wissen, welche Daten wir noch in die Rechnung einsetzen müssen, um vernünftige Schlüsse ziehen zu können. Die Aussage wäre in diesem Sinne nämlich nur stichhaltig, wenn wir es mit der gleichen Zahl von Schülern in HS und AHS zu tun hätten. Es gibt aber viel mehr Hauptschüler.


Eigensinn.Arno Gruen erzählt folgende Geschichte: Eines Tages teilte seine Lehrerin den Schülern mit, sie müsse wegen deren Undiszipliniertheit zu neuen Mitteln greifen. Sie werde sich einen Rohrstock anschaffen. Beim nächsten Ausgang mit den Schülern, fragte sie, wer über die Straße in das Geschäft gehen wolle, um den Rohrstock für sie zu besorgen. Bis auf Gruen selbst balgten sich alle Buben um dieses Privileg.

Eigensinn ist die härteste Nuss, die es im Leben zu knacken gilt. Um ein Leben nach eigener Wahl zu führen, brauchen wir einen guten Realitätssinn, noch viel mehr einen kreativen Möglichkeitssinn und eine hohe Toleranz für Ungewissheit.

Ich nehme das Projekt „eigensinnige Weiblichkeit“ als Beispiel. Frauen leben nicht nur im Patriarchat, das Patriarchat lebt auch in den Frauen. Der Austritt von Frauen aus patriarchalen Weiblichkeitskonstrukten, um ihr eigenes Lied zu singen, erfordert große Courage. Frauen verlieren auf diesem Weg nicht nur ihre Wächter, sondern auch ihr Ideal – das „Exzellente“ steckt auf allen Gebieten voller männlicher Implikationen. Frauen machen deshalb zunächst einen Schritt ins Leere. Der von Männerfantasien leer gefegte Raum ist vorbildlos, überhaupt bildlos, vorstellungslos. Um einer eigensinnigen Weiblichkeit auf die Spur zu kommen und fortan auf die Sprünge zu verhelfen, gilt es, Qualitäten und Praktiken einer freien Weiblichkeit erst zu kreieren.

Frauen halten den Weg zur Autonomie nur durch, wenn sie sich frei machen vom Glanz im Auge aller anderen, wenn sie – im Gegenteil – sehr selektiv nur die Anerkennung satisfaktionsfähiger Partnerinnen oder Kontrahenten suchen. Frauen brauchen Neugier, Fantasie und eine „lange Wut“. Da „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“ verbundene Konstrukte sind, würde die Kreation einer eigensinnigen Weiblichkeit auch die Chance der Männer auf Eigensinn erhöhen – sie wären dann nämlich auch am Zug.


Versiertheit in der Dynamik sozialer Systeme. Die Arenen des Lebens sind nie frei von Machtspielen. Deshalb ist ein reflektierter und gekonnter Umgang mit Phänomenen wie Macht, Einfluss, Dependenz, Konterdependenz und Interdependenz angeraten. Besonderes Augenmerk gilt einer „gefährlichen Gruppendynamik“. Regressive soziale Bedürftigkeiten von Menschen in Gruppen, in Organisationen und besonders in unstrukturierten Ansammlungen erweisen sich häufig als Fallstricke für Vernunft und Fairness. Kurz gesagt: Menschen sind eher bereit, ihr Leben und das anderer aufs Spiel zu setzen, als aus der Reihe zu tanzen. Darüber sollten sie Bescheid wissen. Möglicherweise gelingt dann eine Umorientierung im Sinne Oscar Wildes: „Unbotmäßigkeit ist für jeden, der die Geschichte kennt, die recht eigentliche Tugend des Menschen. Durch Unbotmäßigkeit ist der Fortschritt gekommen, durch Unbotmäßigkeit und Aufsässigkeit.“

Durchkreuzen von Machtspielen fällt schwer. Spielverderber riskieren den Bruch von Beziehungen, möglicherweise die Exkommunikation. Es droht ein sozialer Tod. Persönlicher Sinn und Bedeutung zerfallen. Das kann im Extremfall psychotisch machen, im günstigen Fall aber auch hellsichtig. Ausgeschlossene und Aussteigerinnen können vieles klarer sehen. Sie, die sich nicht schuldig machen, weil sie nicht mitmachen, können genauer hinschauen. Sie, die keine Karriere anstreben, unterliegen keinen loyalen Denkhemmungen. Frei von Verstrickungen und Schuldigkeiten sind sie offen für Alternativen, für die „Freuden der Freiheit“, wie Montaigne es ausdrücken würde.


Autonome Moral.Die Moral eines Individuums entwickelt sich mit seinem Denkvermögen. Solange eine Person nur die eigene Position in einem sozialen System ermessen kann, beurteilt sie Handlungen bloß nach dem pragmatischen Nutzen für sich selbst. Mit der Entwicklung ihres Denkvermögens können Menschen zunehmend auch die sozialen Positionen und Rollen anderer verstehen sowie deren Gedanken und Gefühle interpretieren. Sie erkennen, dass sie allein nicht leben können. So wird das Wohl der eigenen Gruppe interessant, deren Normen werden verbindlich. Damit sind sie auf der konventionellen Stufe der Moral angekommen.

Mit wachsender Vernunft erkennt das Individuum, dass jenseits seiner eingeborenen und eingewöhnten Lebenszusammenhänge soziale Systeme existieren, deren Interessen denen der eigenen Sozietät widersprechen können. Konventionen werden reflektiert, Loyalitäten relativiert. Handlungen werden in der Folge an Prinzipien gemessen, die sich an einem abstrakten Allgemeinwohl orientieren, das über die eigene Gruppe hinausgeht. Diese höchste Form der Moral ist universalistisch, weil sich ihre Prinzipien universell anwenden lassen, sie ist autonom, weil die eigenen Wertvorstellungen maßgebend sind. Handlungsregulativ ist die Vernunft. Exemplarisch für ein in diesem Sinn postkonventionelles Prinzip steht der kategorische Imperativ von Kant: Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.

Im Zeitalter der Globalisierung zeigt sich immer deutlicher, dass das Wohl und Wehe von Individuen langfristig nicht nur mit dem Schicksal ihrer unmittelbaren Bundesgenossen einhergeht. Auch voneinander noch so weit entfernte Gemeinschaften sind auf Gedeih und Verderb miteinander verquickt. Handeln auf universalistischem Niveau ist dennoch nicht weit verbreitet. Es erfordert ein hohes Maß an Vernunft, an Verantwortungsgefühl und an Willensstärke. Oft gilt es ja, unmittelbare persönliche Vorteile, Liebesbedürftigkeit und Harmoniebedürfnis zugunsten langfristiger, universalistischer Interessen hintanzustellen. Nicht nur mit den eigenen Bedürfnissen kommen wir in Konflikt, sondern auch mit der unmittelbaren Umgebung, wenn diese nur auf konventionellem Niveau urteilt.

Je häufiger und je früher Kinder zum gegenseitigen Einfühlen in die Perspektiven der anderen stimuliert werden, desto besser entwickeln sich ihre moralischen Fähigkeiten. Moralische Konflikte in sozial durchmischten Umwelten veranlassen dazu, das eigene Denken und Werten auf einem höheren Niveau neu zu organisieren. So spielt die Gerechtigkeitsstruktur der sozialisierenden Institutionen eine entscheidende Rolle. Eine moralisch höherstufige Umgebung regt die moralische Entwicklung an. Besonders Jugendliche tendieren dazu, moralische Argumente, die eine Stufe über ihrem Urteilsniveau liegen, zu assimilieren, während sie solche unter ihrem Niveau verwerfen. Schule sollte sich diese Befunde zu Herzen nehmen! Auch das politische System.


Sprachmacht. Bürgerinnen und Bürger einer Zivilgesellschaft brauchen eine überzeugende Rhetorik. Wer im täglichen Kampf um die Bedeutung von Wörtern reüssiert, bestimmt, welche Ideen in den Köpfen der Menschen siegen. Man denke an ideologisch geladene Wörter wie Leistung, Gleichheit, Gerechtigkeit, Sicherheit, Freiheit. Was für Wörter gilt, trifft auch auf Theorien zu. Überzeugend vorgebrachte Erzählungen setzen sich durch.

Eine hohe Sprachkompetenz in Verbindung mit einer achtsamen Reflexionskultur ermöglicht uns, Sprachpolitik zu betreiben. Zum Beispiel können wir versteckte Ideologien im Selbstverständlichen der Sprache aufdecken. Ich denke etwa an Umschreibungen wie Freisetzen,Überalterung oder ethnische Säuberung. Auch an beliebte Sprachkonstruktionen, die verantwortliche Akteure zum Verschwinden bringen. Da gibt es etwa „von Armut Betroffene“ oder die Wendung: „Der Krieg ist ausgebrochen.“

Sprachpolitik kann weiters klarstellen, dass verbale Entgleisungen nicht als formale Ausrutscher durchgehen, dass sie vielmehr Taten mit hoher Effektivität darstellen. Medial verstärkt ist mit einer Aussage ein Signal wirksam gesetzt, ein Bild errichtet, ein Sinn gestiftet. Dementi und Entschuldigungen rütteln daran nur mehr wenig.


Humor.Humor sorgt umfassend für Wohlbefinden. „Der Humor hat nicht nur etwas Befreiendes, sondern auch etwas Großartiges und Erhebendes. Das Großartige liegt offenbar im Triumph des Narzissmus, in der siegreich behaupteten Unverletzlichkeit des Ichs. Die Traumen der Außenwelt sind ihm nur Anlässe zu Lustgewinn“, befindet Sigmund Freud. Dadurch wird alles leichter, das freie Denken, das freie Sprechen, das freie Handeln.Humor hat eine hohe Interventionskraft. Wer Leute zum Lachen bringt, hat Einfluss. Die Verblüffung kann kognitiv erleuchten und psychisch erlösen. Jedenfalls eröffnen Irritationen neue Blickwinkel.

Humor hilft uns, Probleme und Konflikte zu lösen. Die Distanzierung, die den Humor kennzeichnet, löst uns aus der Problemtrance, gewährleistet den nötigen Überblick und erweitert unseren Handlungsspielraum. Übertreibung und Verfremdung als Techniken des Humors machen die Moral einer Geschichte deutlicher.

Bei aller Lust am Tabubruch hat Humor eine moralische Funktion. Ironie hilft gegen Überheblichkeit und ideologische Verfestigung. Zynismus taugt gegen Selbstgerechtigkeit, gegen Heuchelei. Durch seinen Hohn für jede Gewissheit schützt Humor vor Totalitarismen und sorgt für Offenheit. Humor geißelt auch jede Instanz, die für sich das letzte Wort beansprucht, ist so machtkritisch und ermutigt zivilen Ungehorsam.

Humor stiftet Beziehungen. Er ist darauf aus, gemeinsam zu lachen. Der „Wiener Schmäh“ hat die Tendenz, Menschen bei jeder Interaktion in sehr persönliche Beziehungen zu verstricken. Menschen, die gemeinsam lachen, fühlen sich nahe und finden einander attraktiv. So erweist sich „Schmähführen“ als probate Aufreißstrategie. Schließlich heißt es ja auch, man lacht sich einen an. Humor ist eine anspruchsvolle Tugend. Humor ist aber wesentlich Resultat seiner eigenen Tätigkeit. Er schafft seine Voraussetzungen ständig selbst. Einmal angestoßen motiviert und perfektioniert er sich leicht selbst.

Ähnliches gilt für alle sechs Bildungskomplexe. Denken, Eigensinn, soziale Virtuosität, autonome Moral, Sprachmacht und Humor induzieren sich nicht nur ständig selbst, sie stoßen einander auch gegenseitig an. Denken fördert die Moral, Humor stachelt Denken und Eigensinn an. Wer gekonnt aus der Reihe tanzt, provoziert Rationalität und Moral. Eine elaborierte Sprache sorgt für Klarheit und perfektioniert das Schmähführen. Lachen verbindet und sorgt für eine lernpositive Hormonlage. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.04.2011)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.