Das dunkle Kapitel des Fußballs

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Fußballer stellen eine privilegierte Minderheit dar. Sie machen aus einem Kindheitstraum ihren Beruf. Doch für manche wird das Spiel zum Albtraum. Wenn der Druck zu groß wird, die Angst vor dem Versagen dominiert.

Louis van Gaal hat sich mit Bayern-Präsident Uli Hoeneß bereits versöhnt. Schnell lancierte der FC Bayern München Fotos, die den Startrainer und seinen größten Kritiker Rotwein trinkend Seite an Seite zeigten. Das Thema „van Gaal“ sei vom Tisch, hieß es Mitte der Woche, nachdem der deutsche Rekordmeister in der Champions League über den rumänischen Klub Cluj mit 4:0 hinweggefegt war. Die Welt ist wieder in Ordnung?

Nein, ist sie nicht. Denn die Welt des Fußballs besteht nicht nur aus Sieg und Niederlage. Sie besteht vor allem aus vielen jungen Erwachsenen, die mehr Geld verdienen, als sie sich vorstellen können, die ihren Kindheitstraum leben können. Die aber trotzdem Ängste und Nöte haben. Bayerns großer alter Mann, Uli Hoeneß, weiß das nur allzu genau. Als Manager hat er Spieler nicht nur verpflichtet und in die Pflicht genommen, er hat sie auch versucht aufzufangen, wenn der sportliche, persönliche Absturz drohte. Spieler wie Mehmed Scholl haben sich bei ihm ausgeweint, das Jahrhunderttalent Sebastian Deisler diskutierte und durchheulte Nächte mit Hoeneß, ehe der psychisch kranke Deisler die Fußballschuhe an den Nagel hängte. Hoeneß, das polternde Rumpelstilzchen in den Medien, tat jahrzehntelang intuitiv jene Arbeit, die in modernen Klubs heute von Sportpsychologen oder Mentaltrainern erledigt wird. Er warf van Gaal vor, „Spieler aus der zweiten Reihe“ zu wenig zu beachten. Und er meint damit, dass Louis van Gaal junge Menschen mit ihren Versagensängsten allein lässt.

Der holländische Dompteur hat in der abgelaufenen Saison fast alles gewonnen. Trotzdem verkörpert er eine Trainergeneration von gestern. Thomas Tuchel, Trainer von Mainz 05, und Dortmund-Coach Jürgen Klopp stehen stellvertretend für eine neue Ära in der Coaching-Zone. Sie sind mehr Betreuer als Trainer.

„Der Siegeszug der Sportpsychologie ist nicht mehr aufzuhalten“, sagt Alfred Pritz. Der Psychoanalytiker und Rektor der Sigmund Freud Privatuniversität in Wien beschäftigt sich schon lange mit den spezifischen Risken im Spitzensport. Im Zentrum stehe die Urangst jedes Leistungssportlers. „Die Angst, es nicht zu schaffen“, sagt Pritz.


Robert Enkes Todestag
jährt sich. Am 10. November 2009 um 18.17 Uhr wurde der 32-jährige deutsche Teamtormann Robert Enke in der Nähe von Hannover vom Regionalexpress 4427 erfasst und getötet. „Der Suizid eines Unverwundbaren, der darauf konditioniert war, im Spiel alle Gefahr abzuwehren, dessen Passion und Beruf es war, auf den Punkt genau richtig zu stehen, um für die Mannschaft, den Verein, die Fans, das Land die Kohlen aus dem Feuer zu holen“ , schreibt die Autorin und frühere Leichtathletin Ines Geipel (der vollständige Text erscheint in der kommenden Ausgabe der Zeitschrift „Datum“).

Geipel war Spitzenathletin des SC Motor Jena, als sich der junge Robert Enke seine ersten Sporen beim DDR-Klub FC Carl Zeiss Jena verdiente. Sie kannte die Familie Enke. Roberts Eltern, Gisela und Dirk, waren ebenfalls Leichtathleten. Und Robert debütierte mit 17, als jüngster deutscher Tormann mit Profi-Status, in der zweiten Liga.

Mit 19 kam Enke zu Mönchengladbach, dann zu Benfica Lissabon, 2002 unterschrieb er einen Dreijahresvertrag beim FC Barcelona. Sein Trainer hieß Louis van Gaal. Enke patzte gleich in seinem ersten Spiel und stand sofort auf dem Abstellgleis. Van Gaal gab ihn keine zweite Chance. Er sprach nicht mehr mit ihm. „Stille Wochen als innere Zerreißprobe, die man einfach nicht so wegfausten konnte wie einen Ball“, schreibt Geipel. Und sie meint: „Barcelona wurde zum Beginn einer Krankheit.“

Die Tragödie des Robert Enke ist ein Einzelfall. Aber die harte Welt des Fußballbusiness durchleben alle. Für manche wird aus dem Jugendtraum ein Albtraum. Vor allem dann, wenn sie erkennen müssen, dass sie nur Teil eines Geschäfts sind. Geld gegen Leistung, lautet die Devise. Kommt diese Leistung nicht, „folgt das Aus. Kein Gespräch, keine Vermittlung“, so Geipel.

„Natürlich stellt die Angst um den Arbeitsplatz, der drohende Jobverlust, für jeden Menschen eine psychische Belastung dar“, sagt Psychoanalytiker Pritz. Bei den Sportlern kommt dieser Stress aber oft aus heiterem Himmel. Sie werden ja von Betreuern so lange bei Laune gehalten, so lange sie ihre Leistung auf dem Spielfeld bringen. Junge Fußballprofis werden chauffiert, eingekleidet und mitunter sogar mit hübschen Frauen versorgt. „Das macht ökonomisch Sinn“, sagt Pritz. „Das Edelmetall“, wie er die Spieler bezeichnet, soll nicht verunreinigt werden. Die Athleten sollen nur an ihren Sport denken und sich nicht über andere Dinge des Lebens den Kopf zerbrechen. Nur so können sie Wochenende für Wochenende ihre Topleistungen abrufen.


Die Angst der Priveligierten.
„Ich weiß, dass ich sehr privilegiert bin“, sagt Andreas Dober und nippt an einem Apfelsaft. Der 24-Jährige trägt den Trainingsanzug des SC Rapid und ist auf dem Sprung zum Training. Sein Nachbar nimmt ihn mit. Es ist Raimund Hedl, der Rapid-Torhüter. Dober selbst hat keinen Führerschein. Er hat ihn bisher auch gar nicht gebraucht. Sein ganzes Leben dreht sich ohnehin nur um den Fußball und um Rapid. Seit er sieben Jahre alt ist, spielt er für die Hütteldorfer. „Mit 15 hat es sich dann schon abgezeichnet, dass ich Fußball-Profi werde“, erinnert er sich zurück. Sein Debüt für die Kampfmannschaft gab er mit 18 gegen die Austria. Mit 19 spielte er erstmals für die österreichische Nationalmannschaft. Gegen England.

Meistertitel, Champions League, legendäre Siege. Wenn Dober die alten Geschichten auspackt, klingt er wie ein ausgepuffter Fußball-Profi. Wenn der Wiener allerdings seine jüngsten Spiele erwähnt, klingt er plötzlich nicht mehr so lässig. Wenn von seinem schweren Schnitzer im Derby gegen die Austria die Rede ist, dann lächelt er sein Gegenüber nicht mehr so selbstsicher an. Dann suchen seine Augen irgendwo einen Punkt zum Festhalten.

Erstmals in seinen 24 Jahren steht Dober an. Er trainiert mehr denn je. Wenn das Training zu Ende ist, feilt er noch an seiner Antrittsschnelligkeit. „Ohne Privattrainer geht nichts mehr. Das machen die anderen auch“, sagt er. Trotzdem reicht es nur noch für Kurzeinsätze. Obwohl Rapid das größte Lazarett im heimischen Fußball darstellt, hat Dober keinen Stammplatz. Das tut weh, das verunsichert. Erstmals in seinem Leben macht er sich Gedanken über die Zukunft. Vielleicht auch, weil er vor Kurzem Vater geworden ist. Instinktiv merkt er, dass er am Scheideweg seiner Karriere angekommen ist.

Im Sommer läuft sein Vertrag aus. „Natürlich bin ich sehr gern bei Rapid, aber wenn man mich hier nicht mehr brauchen sollte, werde ich eben für einen anderen Klub spielen“, sagt er. Diesmal ist sein Blick wieder fest auf sein Gegenüber gerichtet.

Psychoanalytiker Alfred Pritz nennt es das „dunkle Kapitel des Sports“. „Was passiert mit jenen, die es nicht schaffen?“, fragt er. Er stellt diese Frage rhetorisch. Pritz kennt die Antwort. Er kennt genügend Beispiele von gescheiterten Leistungssportlern, die an ihrem „Scheitern“ oft ein Leben lang leiden. Pritz spricht von „Traumatisierungen“. „Diese Sportler verlieren alles. Geld, Unterstützung. Da hilft ihnen keiner.“ Und diese Geschichten liest man auch nicht in den Zeitungen, sieht man nicht in den Sportsendungen im TV.

2004 schien Robert Enkes sportliche Talfahrt gestoppt. Zwar lautete sein neuer Klub nicht Barcelona oder Inter Mailand, sondern FC Hannover 96. Aber das Umfeld passte und im selben Jahr wurde seine Tochter Lara geboren. Sie kam mit einem schweren Herzfehler zur Welt und verbrachte die ersten Monate ihres Lebens auf der Intensivstation.

Lara starb im September 2006. „Es war just die Zeit, als man sich im deutschen Fußball für den Torwart aus Hannover zu interessieren begann, zuerst Klinsmann, später Löw, dann einige Spitzenklubs, auch die Bayern“, schreibt Geipel. Enke wurde die Nummer eins im deutschen Team. Doch er zog sich auch immer wieder Verletzungen zu. Im Oktober 2008 erleidet er einen Kahnbeinbruch. Dann wirft ihn ein mysteriöses Virus zurück. „Im September 2009 erhielt Robert Enkes Krankheit einen Namen, hieß nun bakterielle Mageninfektion“, erinnert sich Ines Geipel.


Sport als Überlebensmittel.
„Ein Selbstmord ist der Endpunkt einer jahrelangen Entwicklung“, sagt Psychoanalytiker Pritz. Er verwehrt sich gegen die oftmalig geäußerte These, der brutale, rücksichtslose Profi-Fußball sei zumindest mitverantwortlich am Tod des Robert Enke. Genauso gut konnte der Fußball für Enke ein „Überlebensmittel“ dargestellt haben. Denn der Sport helfe Menschen mitunter über depressive Stimmungen hinweg. „Der Körper schüttet Endorphine aus. Sport ist ein Antidepressivum“, sagt Pritz.

Am 10. November 2009 konnte das „Überlebensmittel“ Fußball Robert Enke nicht mehr retten. An seinem Todestag werden die Spitzen des deutschen Fußballs an seinem Grab stehen und einen Kranz niederlegen. „Fußball ist nicht alles“, sagte DFB-Präsident Theo Zwanziger in seiner Trauerrede vor einem Jahr.

Ein schöner Satz. Aber damit gewinnt man keine Titel. Das weiß auch Louis van Gaal.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.11.2010)

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