Der Weltmeister im Kreml-Sanatorium

In der DFB-Auswahl ist Sami Khedira der Platzhirsch, seine Erfahrung ist im WM-Quartier gefragt.
In der DFB-Auswahl ist Sami Khedira der Platzhirsch, seine Erfahrung ist im WM-Quartier gefragt.(c) imago/Eibner (EIBNER/Pool)
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Die deutsche Nationalmannschaft wohnt während der WM in Russland in Watutinki am Rande Moskaus. Das Basisquartier liegt auf dem Areal eines Hotels, das der Präsidialverwaltung gehört. Von der Öffentlichkeit wird es abgeschirmt.

Noch ist es ohrenbetäubend laut in Watutinki. Es ist der Lärm von hastigen Arbeiten in letzter Minute. Rasenmäher röhren, eine Säge kreischt, Hämmer klopfen im Takt, unterlegt vom aufgeschreckten Trommeln eines Akkubohrers. Die Deutschen werden von all dem nichts mitkriegen und niemand wird ihnen davon erzählen. Denn diese Dinge sind vor ihrer Zeit in Watutinki passiert. Wenn sie in ihr WM-Quartier einziehen am 12. Juni, wird es ruhig sein. Dann wird nur noch das Zwitschern der Vögel zu hören sein, das Rauschen der Tannen und das leise Glucksen des Flusses Desna.

Das WM-Quartier der Deutschen: ein dreistöckiges Haus ohne Schnickschnack.
Das WM-Quartier der Deutschen: ein dreistöckiges Haus ohne Schnickschnack.(c) Jutta Sommerbauer

Einzig ein Nebengeräusch wird niemand abstellen können, so sehr sich das Nationalteam und sein Tross dies auch wünschen mögen. Es erinnert einen daran, dass man doch nicht mitten im Wald und allein auf weiter Flur ist, wie es zunächst den Anschein hat. Es ist das Triebwerksrauschen der Flugzeuge, die quer über den Himmel von Watutinki fliegen und im Blau ihre Kondensstreifen hinterlassen.

Watutinki ist eine versprengte Siedlung am südlichen Rand Moskaus, gelegen zwischen den Flughäfen Wnukowo und Domodedowo. Es ist einer dieser Orte, dessen geografische Lage stets in seiner Entfernung zu anderen, wichtigeren Orten gemessen wird. Es liegt 16 Kilometer von der Moskauer Umfahrungsstraße MKAD entfernt, die sich als dicker Asphaltring um die russische Hauptstadt zieht. 19 Kilometer sind es bis zur U-Bahn-Station Tjoplij Stan, wo einen die orangefarbene Linie ins Zentrum bringt. Das Luschniki-Stadion ist über die Kaluga-Chaussee knapp eine Stunde Fahrzeit entfernt. Für russische Verhältnisse ist das quasi um die Ecke.

Deshalb hat der Deutsche Fußball-Bund den Ort als Basisquartier für seine Fußballnationalmannschaft gewählt. Watutinki ist kein abgelegenes Ressort wie das Campo Bahia bei der WM in Brasilien 2014, diesem von Sportmanagern als innovativ und kunstsinnig gelobten Traumort in einem Naturschutzgebiet. Wenn es einen „Geist von Watutinki“ gibt, dann ist er zweckmäßig und postsowjetisch.


Cremefarbener Nutzbau. Das beginnt schon beim Wohnhaus der Deutschen. Es ist ein dreistöckiger Bau mit dem Charme eines Ferienheims: ein fantasieloser Nutzbau, cremefarben mit karamellfarbenen Platten, dessen einziger Luxus Balkone zu sein scheinen. Das Haus verfügt zudem über eine Cafeteria und ein Schwimmbad. Das Trainingsgelände des Armeeklubs ZSKA, das die Deutschen benutzen werden, liegt gleich auf der anderen Seite der viel befahrenen Kaluga-Chaussee.

An dem Gebäude sind in diesen Tagen noch immer Bauarbeiter zugange. Sie montieren die hellen Holzlatten für die Balkone, sie mähen den frischgrünen Rasen, im Inneren werden letzte Elektroinstallationen angebracht. Und da ist ein Trupp, bestehend aus vier kleinen Völkerschaften Russlands, der für Reparaturarbeiten abgestellt ist. Salawat, ein drahtiger Kasache, spachtelt ein Loch in der cremefarbenen Mauer aus. Seine Kollegen schauen ihm in Hockstellung interessiert zu, einer knackt Sonnenblumenkerne. Die Russen seien nun mal nicht gut im Fußball, sagt er. „Es ist nicht unser Sport“, sagt er achselzuckend. Die Deutschen würden wohl gewinnen, oder? Salawat wird die Spiele im Fernsehen verfolgen, denn die Tickets für die Stadien sind viel zu teuer für einen Bauarbeiter wie ihn. Dann lacht er auf. „Vielleicht kann Putin für die Russen den ersten Platz bei der WM kaufen.“

In Watutinki fällt der Name von Präsident Wladimir Putin häufig. Das ist nicht verwunderlich. Schließlich ist er der oberste Hausherr hier. Der Sanatoriumskomplex Watutinki steht im Eigentum der russischen Präsidentschaftsverwaltung. Eine 4,5 Meter hohe Mauer schottet das Territorium von der Außenwelt ab. An den Wachen in schwarzer Montur und roten Baretten auf dem Kopf kommt nur derjenige vorbei, der bereits auf der Passierliste steht. Es ist zu hoffen, dass die Deutschen sich rechtzeitig anmelden.

Im WM-Quartier fand gerade ein Probeeinzug statt. Für drei Tage und zwei Nächte bewirtete man Gäste aus der Umgebung. In der noch ein wenig leer wirkenden Cafeteria wurde ein Buffet aufgebaut, man schenkte Tee und Kaffee aus – genau so, wie es in weniger als zwei Wochen mit den deutschen Fußballern passieren wird. Alles habe „sehr gut geklappt“, erklärt der junge Manager Alexander Michailowitsch zufrieden. Natürlich werde die deutsche Mannschaft mit eigenem Koch anreisen, berichtet er, aber er werde diesem jederzeit zur Seite stehen. Deutsch spreche er zwar nicht, „aber Englisch, und sonst geht das mit Händen und Füßen“. Ein beleibter Herr, der die letzten zwei Nächte in dem Haus verbracht hat, lobt die „komfortablen Zimmer“. Nachsatz: „Es wird den Deutschen hier gefallen.“


Wohldosierte Freundlichkeit. Fünf Minuten Fußweg vom WM-Basisquartier der Deutschen liegt das Haupthaus, ein Hotel in Gestalt einer massiven Ziegeltrutzburg. Hier werden der WM-Tross der Deutschen und Journalisten wohnen. Laut Rezeption sind bereits alle 113 Zimmer vergeben, und das trotz der stolzen Preise, die mehr als drei Mal so hoch sind wie sonst. Das Hotel verfügt über Saunas und einen Pool. Es ist ausgerichtet auf Konferenzen und Bankette. Es ist ein Gebäude mit langen Gängen und überdimensionierten Räumen, in denen man glatt Fußball spielen könnte, würden dort nicht tapezierte Stühle, schwere Holztische und Goldsäulen herumstehen. Vor allem Menschen „aus dem System“ frequentieren es, erklärt die Masseurin Vera. Gemeint sind Mitarbeiter der Präsidialverwaltung. Im ersten Stock hängt eine Galerie der Ehrengäste, die das Hotel schon beehrt haben: außer Präsident Putin etwa Kommunistenchef Gennadij Sjuganow und die Schlagersängerin Alla Pugatschowa.

In dem Hotel arbeiten Damen in gestärkten weißen Blusen und schwarzen Röcken, die Freundlichkeit in dosierten Mengen versprühen. Über den baldigen hohen Besuch aus Deutschland spricht man nicht gern. Dem Direktor wurden Interviews untersagt, auch die Kreml-Verwaltung hüllt sich in Schweigen. Nur manch einer Mitarbeiterin rutschen ein paar Worte heraus. Die Fußball-WM, sagt Rezeptionistin Swetlana Knjasewa, sei ein „historischer Moment“ für Russland. „Warum soll man sich darauf nicht freuen?“ Ja, warum eigentlich nicht?


Neue prominente Nachbarn. Alexander Anatoljewitsch wohnt auf der anderen Seite der 4,5 Meter hohen Mauer in einem weißgrauen 17-stöckigen Plattenbau. Er hat vor zwei Monaten erfahren, dass die Deutschen seine neuen Nachbarn sein werden. Sein fußballbegeisterter Sohn, erzählt der 46-Jährige, hoffe auf ein Selfie mit den Spielern. „Wie zuhause wird sich das Team hier fühlen“, ist er gewiss. „Hier gibt es ein gutes Klima.“ Auch die beiden Teenager Maxim und Roma wissen vom baldigen Einzug der Fußballer. „Wenn es ein Treffen mit Fans gibt, wollen wir dabei sein“, sagen sie. Wenn sie die Deutschen aus dem Kreml-Sanatorium nur einmal zu Gesicht bekommen.

Fakten

12.6.

Die deutsche Nationalmannschaft bezieht an diesem Tag ihr WM-Quartier in Watutinki.

11.081

Einwohner hat die Siedlung im Süden Moskaus. Sie besteht aus mehreren Ortsteilen. Das „alte“ Watutinki war früher wegen zahlreicher Militäreinrichtungen eine gesperrte Stadt, in die man nur mit spezieller Erlaubnis durfte. Im „neuen“ Watutinki entstehen Plattenbauten für Jungfamilien. Dazwischen liegt das Kreml-Sanatorium.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.06.2018)

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