Russland feiert die Sbornaja der Herzen

Die Sbornaja legte bei der russischen Fangemeinde in den vergangenen Wochen stark an Beliebtheit zu; den Viertelfinaleinzug hielt vor der WM kaum jemand für möglich.
Die Sbornaja legte bei der russischen Fangemeinde in den vergangenen Wochen stark an Beliebtheit zu; den Viertelfinaleinzug hielt vor der WM kaum jemand für möglich.(c) imago/LaPresse (Fabio Ferrari/ LaPresse)
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Trotz der Niederlage freuten sich die Menschen in Moskau über das engagierte Spiel ihrer Nationalmannschaft nach dem Motto "Wer kämpft, hat schon gewonnen". Beinahe über Nacht ist Russland zu einer Fußballnation geworden.

Moskau. Alle sind sie gekommen: die fahnenschwenkenden jungen Männer, die Familien mit kleinen Kindern, die Freundinnen mit der russischen Trikolore auf der Wange, die bierbäuchigen Mittelalten, die gestrandeten Mexikaner und Brasilianer. Samstagnacht ist das Moskauer Zentrum eine einzige große Partyzone. Tausende strömen durch die Straßen, erobern die für den Verkehr gesperrte Twerskaja, spazieren an der Duma auf dem Ochotnij Rjad vorbei, laufen über die glitzernde Fußgängerzone Nikolskaja. Und immer wieder hört man Freudenschreie und sieht Tänze, werden Fotos mit Freunden und Unbekannten gemacht. Durch die Straßen hallen verzückte „Rossija!“-Rufe, als sage dieses Wort bereits alles.

Es ist, als würde ein Sieg gefeiert und keine Niederlage erlitten. „So sieht es aus, wenn wir traurig sind“, sagt Sascha, 28, ironisch, der die Fahrspuren der Twerskaja hinunterläuft. „Ich habe gehofft, wir würden die Weltmeisterschaft gewinnen.“ Man mag sich gar nicht vorstellen, wie die Russen dann feiern würden. Dann sagt er versöhnlich: „Unser Team hat stark gespielt.“

Der Sieg abseits des Platzes

Ja, die Sbornaja hat das Spiel gegen Kroatien knapp verloren, aber sie hat ein anderes Spiel gewonnen: Die Sbornaja hat die Herzen der Russen erobert. Und das Land hat endlich sein Team. Die Debatte, ob Russland eine Fußballnation ist oder nicht, ist seit Samstagnacht Geschichte. „Molodzi, Molodzi!“, schreit eine Gruppe junger Männer, was sich in etwa mit „Teufelskerle“ übersetzen lässt. Die Nationalspieler haben gekämpft, sie haben gegeben, was sie konnten, sie sind die Helden dieser Nacht.

Am frühen Abend ist die sonst überfüllte Metro fast leer, stattdessen haben sich die Menschen in den Gärten der Lokale vor den Leinwänden versammelt. Epizentrum des Spektakels ist wieder einmal die Nikolskaja-Straße, die inoffizielle Partymeile dieser WM gleich neben dem Roten Platz. Dort haben sich Grüppchen zum improvisierten Public Viewing gebildet, einmal sind es 17Menschen, die gebannt auf ein Iphone starren.

Als in der Verlängerung Mário Fernandes den Ausgleich zum 2:2 schießt, hallt ein Urschrei durch die Straße, tief und wuchtig. Herausgeputzte Mädchen, sonst die Meisterinnen der gespielten Gleichgültigkeit, laufen unter begeisterten „Rossija!“-Schreien auf die Straße. Es wird gefeiert, als wäre der Sieg schon da. Später beim Elfmeterschießen ist die Spannung kaum noch zu ertragen. „Dawaj, dawaj!“, rufen die Burschen („Los, los!“). Nach zwei Fehlschüssen und der Niederlage stand ihnen die Enttäuschung nur kurz im Gesicht geschrieben, die Feierlaune nimmt schnell wieder überhand. „Mit dem Sieg über Spanien haben wir Geschichte geschrieben“, sagt Ilija, 25Jahre. „Auch heute haben sie nobel gespielt.“

Tränen des Stolzes

Musik dröhnt aus den mitgebrachten Soundgeräten, die einen tanzen kaukasische Lesginka, die anderen brasilianische Samba, und ein weiteres Grüppchen verrenkt sich zum Garage-House-Hit der Gruppe Griby „Zwischen uns schmilzt das Eis“. Es ist eine Nacht, in der vieles möglich ist. Eine Nacht, in der russische Männer als Ausdruck der heroischen Männlichkeit weinen dürfen. So wie Artjom Dsjuba, der in einem Interview unter Tränen seiner Mannschaft dankt, sie seine Familie nennt und eingesteht, dass „unsere Herzen gebrochen sind“.

Was für ein Auftritt! Das Resümee von Teamchef Stanislaw Tschertessow fällt wie immer trockener aus. „Wir haben an uns geglaubt. Wir konnten unseren Wert nur beweisen, indem wir hart arbeiten“, sagt der 54-Jährige, der über seine Zukunft beim Verband noch nachdenken will. „Die Menschen haben nicht nur begonnen, an uns zu glauben, sie lieben uns jetzt.“ Das tun sie. Auch Präsident Wladimir Putin habe das Spiel verfolgt, heißt es am Kreml, der wieder einmal die Kriegsmetaphern nicht lassen kann: „Sie starben auf dem Spielfeld, wir sind stolz auf sie.“

Zurück auf der Nikolskaja ist Nik, 31 J., blondes Haar, schwarze Kleidung, wie so viele begeistert von der unerwarteten Leistung des Teams – und von der Atmosphäre. „Nicht einmal zu Neujahr gibt es so eine Stimmung hier.“ Russland mag aus der WM ausgeschieden sein, doch das Fest geht weiter. Eine Woche noch. Er sei erstaunt gewesen, sagt Nik, als die Sbornaja gegen Kroatien verlor. „Ich dachte, Putin hat alles gekauft.“ Und so findet auch der junge Moskowiter in der Niederlage etwas Positives: „Es bedeutet, dass Sport in Russland sauber sein kann.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.07.2018)

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