Judo: Die Kriegerin der Stadt Gottes

Aus der Favela zu Gold: Judoka Rafaela Silva erlöst die Gastgebernation.
Aus der Favela zu Gold: Judoka Rafaela Silva erlöst die Gastgebernation.(c) REUTERS (TORU HANAI)
  • Drucken

Geboren wurde sie in der berüchtigten Favela Cidade de Deus, nun ist sie Brasiliens erste Olympiasiegerin in Rio: Der leidvolle Aufstieg von Rafaela Silva gleicht einem modernen Märchen.

Rio de Janeiro/Wien. Einer ihrer ersten Gedanken nach dem Triumph gehörte den Menschen in den Favelas. „Ich denke, dass sie jetzt meine Angehörigen feiern werden, die nicht das Geld hatten, um hierherzukommen.“ Die Judoka Rafaela Silva, 24, ist Brasiliens erste Olympiasiegerin bei den Heimspielen in Rio. Es ist der Ort ihrer Geburt, der diese Goldmedaille zu einer besonderen macht.

Nur zehn Kilometer vom Olympiapark entfernt liegt die berüchtigte Favela Cidade de Deus, weit über Brasilien hinaus berühmt geworden durch das Oscar-nominierte Drama „City of God“ (2002) von Fernando Meirelles über Freundschaft, Leben und Sterben in Rios Armenvierteln. Hier ist Silva aufgewachsen, ihre Goldmedaille ist das Happy End einer Aufsteigergeschichte voller Hindernisse und Rückschläge. Der Sport war in diesem modernen Märchen ein Vehikel, um Gewalt und Armut zu entfliehen – ein klassisches olympisches Thema also. Und Silva sagt auch noch die dazu passenden Sätze wie „Sport hat mein ganzes Leben verändert“ oder „Der Weg bis hierhin war hart, aber es hat sich gelohnt.“

Zwischen Trotz und Hoffnung

Mit acht Jahren hat Silva am Instituto Reação mit Judo angefangen, ein Sozialprojekt in den Favelas, das heute an fünf Stützpunkten 1200 Kinder und Jugendliche fördert. Der Vater wollte nicht, dass sie auf der Straße herumhängt und so womöglich in den Teufelskreis von Drogen und Gewalt gerät. Während ihre Schwester mit 15 schwanger wurde, entwickelte sich Rafaela zur Weltklasse-Judoka. Auf den Junioren-Weltmeistertitel von 2008 folgte 2013 der Sieg bei der Heim-WM in Rio.

Mit Olympia-Gold am selben Ort avanciert Silva nun zum Liebling der Nation. Das Publikum in ihrer Heimatstadt hatte ihr vor jedem Kampf einen frenetischen Empfang bereitet, es trug sie lautstark zum so wichtigen ersten Gold für das Gastgeberland. „Ich widme diese Medaille dem ganzen brasilianischen Volk, das mich unterstützt hat, meiner Familie und meinen Freunden“, erklärte die Gewinnerin.

Der Sieg in der mit allen Medaillengewinnerinnen von London 2012 hochkarätig besetzten Klasse bis 57 Kilo – Titelverteidigerin Kaori Matsumoto (JPN) musste sich mit Bronze begnügen – war für Silva auch eine persönliche Genugtuung. Die Brasilianerin hatte in ihrer Karriere auch schwierige Phasen zu meistern. Nachdem sie 2012 in London schon in der ersten Runde wegen eines technischen Fehlers disqualifiziert worden war, musste sie heftige und teils rassistische Anfeindungen ertragen. Sie zog sich zurück, hätte beinahe die Karriere beendet. Nun verkündete sie trotzig: „Diese Medaille ist für alle, die mich kritisiert haben und gesagt haben, dass ich die Schande meiner Familie sei, dass ich nicht in der Lage sei, bei Olympia zu bestehen.“

Brasilien ist durch die politischen Turbulenzen rund um die Suspendierung von Präsidentin Dilma Rousseff gespalten. Silvas Erfolg ist Balsam für die Seele der Nation, ihre Goldmedaille, so die Hoffnung, könnte die tiefen Gräben zumindest für eine Weile vergessen machen. Hier die junge schwarze Frau mit den dunklen Locken, dort die weißen Männer der neuen Mitte-rechts-Regierung von Michel Temer. Der Interimspräsident nannte Silva eine „Kriegerin“.

Eine Botschaft an die Favelas

In der Stunde ihres größten Erfolges richtete Silva noch einen Appell an die Menschen in den Favelas: „Meine Botschaft für sie ist, dass man seine Träume verfolgen muss. Wenn man einen Traum hat und dafür kämpft, kann man es schaffen.“ Für sie selbst hat sich der Kreis geschlossen: Weinend umarmte sie Flávio Canto, den brasilianischen Judo-Bronzemedaillengewinner von Athen 2004. Er hatte einst das Instituto Reação in den Favelas gegründet, jenen Ort, an dem Silva erkannte, „dass Judo mein einziger Ausweg ist“. (joe)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.08.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Judo - Women -57 kg Final - Gold Medal Contest
Olympia

Favela-Kind gewinnt Brasiliens erstes Gold

Die Judoka Rafaela Silva hat die erste Goldmedaille für Brasilien bei den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro gewonnen.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.