Ein Jahr nach dem Finalskandal ist die 37-jährige Serena Williams abermals die Favoritin auf den Titel bei den US Open. In New York aber ist der Eklat aus dem Vorjahr dieser Tage immer noch Gesprächsthema.
New York. Die Sache beschäftigt Serena Williams noch so sehr, dass sie kaum darüber sprechen kann. Fragen zu einem der größten Skandale der Tennisgeschichte würgt sie stets im Keim ab. Zu groß ist die Angst, dass sie die Emotionen überkommen könnten, wenn es um das Finale des vergangenen Jahres geht. Darauf angesprochen, dass der Schiedsrichter von damals, Carlos Ramos, heuer keines ihrer Spiele leiten wird, antwortet sie provokant: „Ich weiß nicht, wer das ist.“
Dabei hätte die 23-fache Grand-Slam-Siegerin allen Grund zur Freude. Ihre Rückenverletzung, die sie in Cincinnati noch zur Absage zwang, scheint überwunden. In der ersten Runde demütigte sie die ehemalige Weltranglistenerste, Maria Scharapowa, in weniger als einer Stunde mit 6:1 und 6:1. Und trotzdem: Ihr Siegerlächeln wechselt sich während des Siegerinterviews im Arthur Ashe Stadion mit dieser ernsten Miene ab. „Der Sieg bedeutet mir sehr viel. Ich hatte einige schwierige Niederlagen hier, aus welchen Gründen auch immer“, sagte sie.
Ramos hatte Williams im Endspiel 2018 gegen Naomi Osaka zunächst wegen unerlaubten Coachings verwarnt. Die 23-fache Grand-Slam-Siegerin verlor die Beherrschung, beschimpfte den Unparteiischen mehrmals, bekam letztlich ein Strafgame ausgesprochen und verlor das Match. Seitdem ist unter den Tennisfans so etwas wie ein Glaubenskrieg ausgebrochen. Von Rassismus und Sexismus sprechen die einen: Einen weißen Mann hätte Ramos niemals so behandelt, lautet das Argument. Die Regeln gelten für alle, auch für die wohl erfolgreichste Tennisspielerin aller Zeiten, entgegnen die anderen.
Keine Tennisspielerin, möglicherweise kein Sportler überhaupt, polarisiert so sehr wie Serena Williams. Nicht nur auf den öffentlichen Tennisplätzen in New York wird das Finale aus 2018 immer noch heiß diskutiert. Auch auf der Anlage in Flushing Meadows im Stadtteil Queens ist das Thema allgegenwärtig. „Sie hat nichts falsch gemacht“, brüllt eine junge Dame, die während Serenas Aufwärmen vor dem Match gegen Scharapowa einen der begehrten Sitzplätze hinter dem Übungsplatz eins ergattern konnte.
Klar ist: Sollte es Williams heuer erneut ins Finale schaffen, werden die Emotionen hochgehen, die Erinnerungen an das Vorjahr wiederkehren. Dass es so weit kommt, scheint nach ihrer Leistung in der ersten Runde wahrscheinlich. Oder wie es Pam Shriver, die frühere Spitzenspielerin, formulierte: „Wenn sie so spielt, ist sie unbesiegbar.“
("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.08.2019)