Zeitgeschichte: Rotweißroter Volksheld wider Willen

Vor 35 Jahren wurde Karl Schranz in Sapporo ausgeschlossen. Chronik eines „Volksaufstandes“.

Das waren die 24 schwersten Stunden, die ich im Skilauf mitgemacht habe!“ Es war ein Seufzer der Erleichterung, als der österreichische Rennläufer Karl Schranz 1970 zum dritten Mal den WM-Titel errungen hatte. Das sollte sich als voreilig erweisen. Denn die schlimmsten Stunden standen ihm noch bevor.

Eigentlich hatte der Ausnahmesportler aus St. Anton am Arlberg schon so gut wie alles gewonnen, was es zu gewinnen gab. Eigentlich wollte er aufhören. Und gut besoldeter ÖSV-Trainer werden.

Eigentlich. Doch im Mai 1970 überlegte sich's der 31-Jährige anders. „Mir ist nicht nach Ausruhen zumute und ich fühle mich nicht als der alte Mann auf Skiern. Im Wesen des Spitzensports liegt das Risiko . . .“

„Lebende Reklamesäule“

Dunkle Wolken zogen schon lang vor der Entladung auf. Denn seit geraumer Zeit führte der greise Präsident des Internationalen Olympischen Komitees IOC, US-Millionär und Porzellansammler Avery Brundage, einen Privatkrieg gegen Schranz, den er als Ausgeburt allen Übels betrachtete: Der angebliche Amateur sei in Wahrheit eine „lebende Reklamesäule“, die etwa 60.000 $ Jahresgage habe, wetterte der Olympier.

Im Jänner 1972 spitzte sich das Drama zu. Brundage drohte, Ski-Nationen von den Olympischen Winterspielen im japanischen Sapporo auszuschließen, wenn sie mit Profis antanzten. Schranz, der Star, schwang sich zum Sprecher auf und kündigte seinerseits dem IOC einen Skandal an, „der größer wird als der Skandal im deutschen Fußball.“ In einer japanischen Zeitung machte er sich auch über die alten Greise im IOC lustig.

In Kitzbühel, auf der „Streif“, demonstrierte Schranz am 16. Jänner noch einmal seine überragende Form, siegte im Abfahrtsrennen und war so der Topfavorit für Sapporo. Also, auf nach Japan!

Am 31. Jänner sauste das Fallbeil nieder. Karl Schranz wurde von Brundage von den Winterspielen ausgeschlossen. Ein Foto, auf dem Schranz bei einem Jux-Turnier im „Aroma-Kaffee“-Leiberl zu sehen war, gab den Ausschlag. Die Abstimmung im IOC ging mit 28:14 gegen den Österreicher aus. Die Nachricht überbrachte ihm sein Freund Josef Metzger von der „Presse“ während des Abfahrtstrainings auf dem Mount Eniwa. „Das gibt's do' net“, stammelte Schranz. Er wusste: Sein Lebenstraum, Olympia-Gold, war zunichte gemacht.

„. . . der Brundage ist daneben!“

Die Welle der Empörung, die Österreich ergriff, kann man sich vorstellen. Ein „erschütterter“ Unterrichtsminister Fred Sinowatz empfahl der ÖOC-Mannschaft, aus Sapporo abzureisen, gleichzeitig ersuchte er Deutschland, Schweiz, Frankreich und Italien, Sapporo ebenfalls zu boykottieren.

Das taten die natürlich nicht. Ein Konkurrent weniger! Und auch die übrigen Österreicher bleiben. Und Funktionären fällt bei diesem Schmierenstück ein Stein vom Herzen: Karl Schranz bittet selbst, dass die Kollegen nicht abreisen. Na, dann! Sinowatz gratuliert, ÖVP-Obmann Schleinzer auch. In St. Anton ist die 70-jährige Mutter Anna Schranz dem Nervenzusammenbruch nahe, aber die Nachbarn trösten: „Auch ohne Gold ist unser Karl der Beste!“ Das wird bald das Leitmotiv aller Österreicher: Karl Schranz ist unser Olympiasieger!

Während die Hauptperson Richtung Heimat fliegt, spielen sich unbeschreibliche Szenen ab. Anti-Brundage-Sticker kursieren in Wien, wer etwas auf sich hält, geht damit herum – selbst auf dem Jägerball. Die Band „Zottelshop“ wirft 5000 Schallplatten auf den Markt: „Der Karli soll leben, der Brundage is' daneben!“

Die Politik und der ORF des Gerd Bacher sind indes auch nicht untätig gewesen. Der Empfang in der Heimat sollte alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen. Bacher wirft die „größte Medienorgel des Landes“ an, und die SP-Regierung spielt mit. Zehntausend Menschen begrüßen Schranz in Schwechat, die Fahrt im offenen Auto zum Ballhausplatz gestaltet sich zum Triumphzug. 100.000 sollen an diesem 8. Februar 1972 auf den Straßen Wiens gewesen sein. Burschen winkten, Frauen weinten, Mädchen kreischten, es regnete Blumen in die offene Mercedes-Limousine. Transparente und Tafeln wurden geschwenkt – dagegen war der Jubel über den Staatsvertrag 1955 ein „Lercherl“.

Dann die Ankunft am Ballhausplatz. Wenigstens war's nicht der Heldenplatz. Sinowatz und dessen „Spin-Doctor“ Hans Pusch geleiten Schranz, den Unglückswurm, hinauf ins Büro des Bundeskanzlers, wo schon Kamerateams und Adabeis lauern. Nach einigen tröstenden Worten des Regierungschefs öffnen Saaldiener die Balkontür, doch Kreisky verweigert die Regieanweisungen: „Ich geh' nicht mit auf den Balkon. Die Hauptperson ist heute er.“ Und „er“ tritt unter unbeschreiblichem Jubel hinaus auf den barocken Balkon. „Karli, Karli“-Sprechchöre rufen den wie versteinert wirkenden Sportler dreimal auf den Balkon. Und seine Fans hocken auf Bäumen, den hohen Gittern des Volksgartens. „Karli! Karli..!“

Ein typischer Österreicher

Schranz gehört nun den Massen. Der Mann ist einer der ihren. Er ist der Österreicher per se. Warum das Unrecht auf der Skipiste um so viel mehr erbittert als etwa der Vietnamkrieg, sollte die „Arbeiter-Zeitung“ tags darauf säuerlich fragen. Ganz einfach: Weil hier einer ist, den die Obrigkeit zermalmt hat; weil hier einer ist, der das österreichische Schicksal auf so einfache Weise verkörpert: Ich könnt' ja eh, wenn man mich nur lasst! Dann wär' ich jetzt Weltmeister und Olympiasieger!

Die zutiefst verwundete österreichische Seele hatte sich Luft gemacht. Das Erschrecken der Politik und Medien, das kollektive Erwachen kam im Falle Schranz zu spät.

PS.: Trixi Schuba gewann in Sapporo 1972 Eiskunstlauf-Gold. Österreich freute sich. Verhalten. Erschöpft. Am 15. Februar trat Karl Schranz vom Rennsport zurück.

Inline Flex[Faktbox] ZUR PERSON("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.02.2007)

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