Die Freiheit nach dem Schanzentisch

Im Skispringen geht es schon beim Absprung um Hundertstelsekunden und bei der Landung mitunter um Zentimeter.
Im Skispringen geht es schon beim Absprung um Hundertstelsekunden und bei der Landung mitunter um Zentimeter.GEPA pictures
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Zahlen stützen den Mythos, der auch bei der 67. Vierschanzentournee gepflegt wird. Über Weiten, Höhen, Tiefen, sehr bittere Niederlagen, skurrile Sieger und ihre besten Flugdaten.

Oberstdorf. Es ist die Welt der Zahlen, die das Skispringen prägen und auch so reizvoll machen. Tempo, Meter, Punkte, Windstärken, Erdbeschleunigung – oder freilich Rekorde. Diese Daten sind auch die Basis für die 67. Vierschanzentournee, die am Samstag mit der Qualifikation in Oberstdorf (16.30 Uhr, live, ORF eins) anheben wird. Dass Österreich sechs Starter stellen wird, ist eine dieser Zahlen. Vollkommen skurril mutete dabei aber an, dass bis Freitagnachmittag mit Stefan Kraft, Michael Hayböck und Daniel Huber nur drei ÖSV-Adler wussten, dass sie bei der Tournee mitspringen werden. Der Rest musste sich erst in Engelberg qualifizieren.

Die traditionelle Präsentation des Teams im Hotel Oberstdorf war also kurios. Die Athleten rangen um Antworten für das hartnäckige Formtief, welches nur einen Podestplatz in dieser WM-Saison ausschüttete. ÖSV-Direktor Mario Stecher beharrte darauf, dass Fortschritte gemacht worden seien und man „der Entwicklung der Mannschaft Zeit geben“ müsse.

Boklöv, Hannawald – jetzt Stoch

Daher war auch die selten so penibel vorgenommene Auswahl der Tourneestarter nötig. Sie sollten sich beim Kontinentalcup in Engelberg empfehlen, sagt Stecher. In jeder anderen Sportart wäre es aber undenkbar, dass am Tag vor einem Länderspiel nur die halbe Nationalmannschaft bekannt ist.

Dass vor genau einem Jahrzehnt die Epoche der „Super-Adler“ mit dem Tourneesieg von Wolfgang Loitzl (fünfmal 20,0 in Bischofshofen) begonnen hatte und zu sieben Siegen in Serie auswuchs, ist in diesem Augenblick nur noch Verklärung. Denn die Suche nach dem richtigen Flugstil – im Dezember 1988 wurde der Schwede Jan Boklöv erstmals mit dem V-Stil vorstellig und ausgelacht – gestaltet sich schwieriger als gedacht. Andere, etwa Kamil Stoch, der als erster Springer nach Sven Hannawald 2002 im Vorjahr auf allen vier Schanzen gesiegt hatte, haben ihre Haltung längst gefunden. Der Pole könnte mit dem dritten Sieg den Hattrick des Norwegers Bjørn Wirkola (1966/67 bis 1968/69) egalisieren.

Als Favorit gilt für Experten auch Ryōyū Kobayashi. Der Japaner, 22, hat vier Saisonsiege zu Buche stehen und könnte den Schanzenklassiker als zweiter Japaner nach Kazuyoshi Funaki (1998) gewinnen. Noriaki Kasai, 46, ist das noch nie gelungen, obwohl der Flugsaurier seine 30. Weltcupsaison unter die Skier nimmt. Auch dem Schweizer Simon Ammann, 37, blieb in 20 Versuchen der ersehnte Triumph verwehrt.

Um 40 Zentimeter verloren

Man kann die Tournee in Oberstdorf (25.500 Zuschauer, ausverkauft) nicht gewinnen, sehr wohl aber verlieren – das behauptet zumindest eine seit 1953 und dem Auftakt geführte Weisheit. 2003 belehrte der Norweger Sigurd Pettersen die Szene aber eines Besseren. Er sprang auf dem Schattenberg 143,5 Meter weit, sein Rekord hat bis dato Bestand – und ebnete ihm mit 22,5 Punkten Vorsprung den Weg zum Gesamtsieg.

Zwölf der vergangenen dreizehn Tourneesieger standen in Oberstdorf auf dem Podest. 26 Mal wurde der Auftaktsieger auch der Champion. Die beste Aussagekraft bezüglich der Sieger hat der Bergisel. 33 Tagessiegern war der Titel nicht mehr zu nehmen.

Rekordsieger ist der Finne Janne Ahonen. Er triumphierte zwischen 1999 und 2008 fünf Mal. 2006 teilte er sich den Sieg mit dem nach vier Wettbewerben punktgleichen Tschechen Jakub Janda (1081,5 Zähler). Bei der Tournee 1956/57 trennten Ersten und Zweiten satte 0,7 Punkte. Der Finne Eino Kirjonen hatte das Nachsehen – es sind umgerechnet 40 Zentimeter.

Acht Gesamtsieger (20.000 Euro Preisgeld) durften jubeln, obwohl sie auf keiner Schanze (Tagessieg 10.000 Franken; ca. 9300 Euro) gewonnen hatten. Allerdings: Ein Quartett schaffte es, die Tournee zu verlieren, obwohl es jeweils drei Tagessiege (zehn sind Rekord, Jens Weißflog) feierte. Dieser Lapsus unterlief Karl Schnabl (1975) und gleich in der folgenden Saison auch noch Toni Innauer. In diesem Jahr wurde der Finne Toni Nieminen geboren, der 1992 als 16-Jähriger und jüngster Springer Tournee und Olympiagold gewinnen sollte.

Als bislang letzter Österreicher jubelte 2015 Stefan Kraft. Ob er am Dreikönigstag 2019 in Bischofshofen (23 ÖSV-Siege seit 1954) erneut feiern kann? Er wäre der fünfte ÖSV-Adler, der die Tournee zweimal gewinnen konnte. Nach schwachen Ergebnissen dieser Saison ist er im Gesamtweltcup 13. Für manche eine Unglückszahl, für andere die schönste Lebenszahl.

AUF EINEN BLICK

Sextett komplett. Stefan Kraft, Michael Hayböck und Daniel Huber hatten ihre Tourneetickets fix. Am Freitag qualifizierten sich beim Kontinentalcup in Engelberg auch noch Markus Schiffner, Philipp Aschenwald und Manuel Fettner.

Die 67. Vierschanzentournee beginnt am Samstag mit der Qualifikation in Oberstdorf (16.30 Uhr, live, ORF eins).

Skispringerin Thea Sofie Kleven ist im Alter von 17 Jahren gestorben. Der Skiverband Norwegen informierte über das Ableben des Nachwuchstalentes, die Todesumstände blieben offen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.12.2018)

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