Russland: Der Markt entscheidet, wann gekauft wird

In Moskau haben Geschäfte geöffnet, wann immer es die Besitzer für sinnvoll halten. Oft sieben Tage die Woche und rund um die Uhr.

Wer sehen will, welchem Rhythmus das Leben in Russland folgt, fährt am besten gegen Mitternacht auf die Leningradskoje Chaussee 71. Um diese Zeit ist immerhin garantiert, dass sich der Verkehr auf der Moskauer Ausfallstraße Richtung St. Petersburg nicht mehr staut. Was nicht heißt, dass auch das Leben in und vor dem Haus Nummer 71 zur Ruhe gekommen wäre. Fast im Gegenteil. Hier, wo die Handelskette „Metro“ eine ihrer Niederlassungen angesiedelt hat, ist auch in dieser Freitagnacht die Hölle los. Bis zu einer Stunde Wartezeit an der Kassa nimmt man da bei seinem Kauf schon in Kauf. Zu murren hätte auch wenig Sinn. Schließlich staut es sich an allen zwei Dutzend Kassen in gleicher Weise.

Im russischen Handel mit seinen konsumverliebten Kunden geht nicht nur die Post ab. In den Geschäften scheint die Welt auch zeitlich kopfzustehen. Weil die Straßen tagsüber verstopft sind, haben viele Bewohner der Millionenstädte ihren Rhythmus gleich umgestellt. Wer unter der Woche spätnachts nach Hause fährt, erledigt gern noch Besorgungen auf dem Weg. Wer nicht, wählt das Wochenende fürs Shopping. Mit der landesüblichen Nuance: Wochenende heißt nicht nur Samstag, sondern auch Sonntag. „Der Sonntag wird als Unterhaltungs- und Shoppingtag gesehen“, erklärt Paul Richter, lange Manager der Elektronikkette M. Video und nun Handelschef der russischen Kinderwarenkette Korablik, im Gespräch mit der „Presse am Sonntag“: „Etwa 50 Prozent des Umsatzes werden an Wochenenden getätigt. Und das Nachtgeschäft von 22 bis acht Uhr macht zehn bis zwanzig Prozent des Gesamtumsatzes aus.“


Rund um die Uhr. In Wladimir Putins Russland errichten die entfesselten Beamten zwar allenthalben Schikanen. Bei den Ladenöffnungszeiten aber regiert der Markt. Die Wirtschaft hat auf die Nachfrage schnell reagiert. Die großen Einkaufszentren haben bis mindestens 23 oder 24 Uhr geöffnet. Supermärkte, Elektronikhandelsketten, aber auch viele Restaurants rund um die Uhr. Am Sonntag ohnehin.

„In Russland gibt es keinerlei Diskussion über die Regulierung der Ladenöffnungszeiten“, erklärt Wladimir Gimpelson, Arbeitsmarktexperte der Moskauer Higher School of Economics. Auch Organisationen wie die Kirche thematisieren sie nicht. Es ist eher so, als finde der Liberalismus, der sonst in der Gesellschaft gar nicht verankert ist, im Konsum seine Nische. Auch angesichts des autoritären politischen Systems ist Konsum neben dem Reisen ein Feld, in dem Selbstbestimmung gelebt wird. Das Geld für den Wohlstandsaufbau gibt es ohnehin erst seit gut einem Jahrzehnt.

Heute wird trotz einer De-facto-Stagnation nicht gespart. Dies auch, weil die Russen viele Geldentwertungen mitgemacht haben und Konsum neben Immobilien als einzig wahren Inflationsschutz sehen. Nicht zufällig sind längst nicht mehr Rohstoffkonzerne, sondern etwa die größte Lebensmittelkette Magnit der Liebling der Investoren. Die Handelshäuser expandieren wie wahnsinnig. Das Kleinkindergeschäft Korablik eröffnet wöchentlich eine neue Filiale.

Um den Konsumrausch zu bedienen, braucht es natürlich Personal rund um die Uhr. Stellenangebote gibt es daher zuhauf. Das hat wohl auch damit zu tun, dass der gesetzliche Nachtzuschlag ab 23 Uhr nicht überall bezahlt wird. Und der Zeitausgleich werde nicht gesetzlich, sondern im Betrieb geregelt, erklärt Gimpelson: „Und dennoch: Lag der Lohn im Handel vor 15 Jahren unter dem der Industrie, so ist er heute gleich hoch.“ Das ist zwar immer noch unter dem Durchschnittslohn, der in Moskau rund 1200 Euro beträgt. Aber aufgrund der schnellen Expansion brauche der Handel viele Führungskräfte, die aus der Basis rekrutiert würden, sagt Richter: „Innerhalb von zwei Jahren kann man zum Leiter eines Geschäftes mit bis zu 2000 Quadratmeter aufsteigen. Und dafür gibt es 3000 Euro brutto ohne Bonus.“

Wer in der Bevölkerung übrigens die Ruhe bevorzugt und dem geschäftigen Treiben der Stadt am Wochenende entfliehen will, fährt gewöhnlich auf seine Datscha. Und findet dann auch dort die Geschäfte rund um die Uhr geöffnet. Dazu ab Mai jegliche Baumärkte.

Wer aber eine Reise nach Europa bucht, wird im Reisebüro eindringlich gewarnt: „In Europa sind die Geschäfte am Sonntag geschlossen. Tätigen Sie Ihre Einkäufe besser vorher!“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.05.2013)

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