Atomkraft nähert sich dem Bankrott

The South Bohemian Philharmonic Quartet performs inside a cooling tower at Temelin nuclear power plant near the town of Tyn nad Vltavou
The South Bohemian Philharmonic Quartet performs inside a cooling tower at Temelin nuclear power plant near the town of Tyn nad Vltavou(c) REUTERS (DAVID W CERNY)
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Die Schwemme an günstigem Ökostrom macht Atomkraftwerke zunehmend unrentabel. 2016 wurde kein einziger neuer Reaktor gebaut, die Unternehmen häufen Milliardenschulden an.

Wien. Fünf Jahre nach der dreifachen Kernschmelze im japanischen Atomkraftwerk Fukushima Daiichi sind die Folgen deutlich zu spüren: Jeden Tag sind 3000 bis 7500 Arbeiter mit Aufräumarbeiten beschäftigt, hunderttausend Menschen dürfen noch immer nicht in die einstige Heimatregion zurückkehren. Nur zwei von 42 betriebsfähigen Reaktoren im Land sind wieder in Betrieb.

Die Nuklearindustrie hat sich von dem Schlag weltweit nicht mehr erholen können. Zwar wurden 2015 zehn neue Reaktoren in Betrieb genommen – acht davon in China. Aber diese Statistik täuscht, denn die Bauentscheidung fiel in jedem Fall vor Fukushima. Im ersten Halbjahr 2016 gab es hingegen keinen einzigen Baustart für neue Reaktoren, heißt es im „World Nuclear Industry Status“, der inoffiziellen Branchenbibel. Ein ganzes Jahr ohne neuen Baustart gab es zuletzt vor über zwanzig Jahren.

Die Atomindustrie ist schwer unter Druck. Fukushima ist nur ein Grund dafür. „Es ist eine einfache ökonomische Entscheidung“, bringen die Studienautoren das Dilemma auf den Punkt: Neue Atomkraftwerke rechnen sich nicht mehr.

Von Erneuerbaren ausgebootet

Der massive Aufschwung der Erneuerbaren hat die Strompreise in entwickelten Ländern auf ein Niveau gedrückt, auf dem AKW nicht rentabel arbeiten können. Ohne hohe staatliche Subventionen, wie sie zuletzt etwa London beschlossen hat, ist der Neubau eines Kernkraftwerks ökonomisch nicht sinnvoll. Zu billig ist der Strom, den Wind- und Solaranlagen in immer größeren Mengen in die Netze einspeisen. „Wenn sich die Dinge nicht ändern, stehen zehn bis 20 Atomkraftwerke auf der Kippe“, sagt Marvin Fertel, Präsident des Nuclear Energy Institute. Die Atomenergie werde „unumkehrbar von den erneuerbaren Energien ausgebootet“, sagt auch Tomas Kaberger, Universitätsprofessor an der Chalmers University of Technology in Schweden. Kaberger sitzt übrigens im Aufsichtsrat des schwedischen Staatskonzerns Vattenfall, der zehn Atomkraftwerke besitzt.

Nicht nur in Europa, auch in Asien verdienen AKW ihre Kosten oft nicht mehr zurück. So plant Indien, zwei Reaktoren wieder stillzulegen, weil sie zu teuer produzieren. Länder wie Japan, Taiwan, Schweden, die Schweiz oder die USA nehmen ebenfalls Reaktoren frühzeitig vom Netz. Die meisten Atomstaaten mit Ausbauplänen hat diesen bereits abgesagt oder sie zumindest verschoben. Die Volksrepublik China, ansonsten der große Lichtblick der Branche, ist hier keine Ausnahme: Die Hälfte der 21 geplanten neuen AKW muss warten. Unterdessen pumpt Peking fünfmal mehr in den Ökostromausbau als in neue AKW.

Diese Entwicklung lässt sich in den Bilanzen der Atomkonzerne nachlesen. Der französische AKW-Bauer Areva hat in den vergangenen fünf Jahren knapp zehn Mrd. Euro Verlust angehäuft. Frankreich rückt zur 5,6 Mrd. Euro teuren Rettung aus und will das Unternehmen zerschlagen. Vom Börsenwert des Jahres 2007 sind gerade einmal fünf Prozent übrig. Auch der staatliche französische Energiekonzern EdF hat mittlerweile 37 Mrd. Euro Schulden angehäuft. Die japanischen Branchenriesen Tepco und Kansai haben sich von dem Fukushima-Schock nie erholt. Und selbst die Aktien von Chinas staatlichem Nuklearkonzern DGN verloren im vergangenen Jahr an der Börse 60 Prozent an Wert.

Im Schnitt 29 Jahre alt

Eine Entwicklung, die den Studienautoren durchaus Sorge bereitet: „Eine Nuklearindustrie unter ökonomischem Stress könnte eine gefährlichere Industrie werden“, warnen sie. Dann nämlich, wenn der Kostendruck auch zu Einsparungen bei der Sicherheit führe. Immerhin sind weltweit noch 402 Atomreaktoren in Betrieb. Durchschnittsalter: 29 Jahre. Zusammen haben sie im Vorjahr 178 Terawattstunden Strom erzeugt. Ein Drittel dessen, was Windkraft- und Solaranlagen beigesteuert haben.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.07.2016)

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