Die Regierung in Rom spielt auf Zeit, denn sie weiß: Wenn sie vor der Europawahl im Mai 2019 keine Strafsanktion aufgebrummt bekommt, wird das vermutlich nie geschehen.
Brüssel. 22 Minuten nach Ablauf der Frist zu Mitternacht landete die Verteidigung des italienischen Haushaltsentwurfs in der Mailbox der Europäischen Kommission, an ihrem Inhalt war freilich schon vorher nicht zu zweifeln gewesen: Die populistische Links-Rechts-Koalition hält an ihrer Absicht, im kommenden Jahr 2,4 Prozent Defizit zu machen und das strukturelle Defizit zu erhöhen, unbeirrt fest, obwohl Italien die zweithöchste Schuldenlast der Eurozone trägt. Die Kritik der Kommission sowie der übrigen 18 Finanzminister der Währungsunion ließ Italiens Führung kalt. Sie bleibt bei ihrem Plan, sowohl eine Mindestsicherung sowie eine Steuersenkung einzuführen, also Ausgaben zu erhöhen, während Einnahmen sinken.
Nach den Regeln des Stabilitätspaktes, die aus Anlass der Griechenland-Krise nachgeschärft wurden und seither erstmals Geldbußen als Strafe für den Bruch der gemeinsamen Budgetregeln vorsehen, müsste nun ein Sanktionsverfahren beginnen. Die politische Großwetterlage in Europa könnte ein solches verhindern.
Rückenwind für Populisten
Denn dieses Ringen zwischen Brüssel und Rom findet nicht im luftleeren Raum statt. Die Koalition der linken Fünf-Sterne-Bewegung und der rechtsautoritären Lega provoziert bewusst einen Konflikt mit der Union, die sie als undemokratisch und anmaßend verunglimpft. „Sie haben sich geirrt, wenn sie glauben, Geldstrafen über das italienische Volk verhängen zu können“, drohte Matteo Salvini, Vizeregierungschef und Lega-Führer, gegenüber dem Radiosender RAI. Sein Kalkül bezieht die Europawahl im Mai 2019 mit ein: Egal, welche Entscheidung die anderen 18 Finanzminister auf Grundlage der Vorschläge der Kommission auch treffen, ob für oder gegen die Budgetpläne der Regierung, wird sich daraus für Salvini bestes Wahlkampfmaterial fabrizieren lassen.
Der Zeitplan, den der Stabilitätspakt vorgibt, spielt den Populisten in die Hände. Er umfasst viele kleine prozedurale Etappen, von denen jede für sich dafür geeignet ist, erneut die Volksseele gegen „die in Brüssel“ aufzuheizen. Bis nächsten Mittwoch muss die Kommission einen Bericht vorlegen, in dem sie Italiens Bruch der Haushaltsregeln feststellt. Bis Ende November werden die Gesandten der Finanzministerien der Eurozone diesen beurteilen; sie dürften die Einschätzung der Kommission teilen. Auf Basis dieser Zustimmung kann wiederum die Kommission die Einleitung eines Verfahrens wegen übermäßigen Defizits empfehlen. Doch diese muss erst recht wieder von den Eurozonen-Finanzministern beschlossen werden; das geht frühestens am 3. Dezember. Zehn Tage später ist EU-Gipfeltreffen, und auch wenn der Europäische Rat formal keine Rolle im Defizitverfahren hat, wird Ministerpräsident Giuseppe Conte diese Reise nach Brüssel nützen, um zu drohen. Dann steht über die Weihnachtsferien und bis Dreikönig die politische Maschine still, frühestens am 21. Jänner treffen sich die Eurozonen-Finanzminister wieder. Bei diesem Euro-Gruppe-Treffen könnten sie Sanktionen beschließen (die Italien nur mit umgekehrter qualifizierter Mehrheit stoppen könnte). Doch selbst dann würde Rom drei Monate Zeit für Nachbesserungen bekommen, sprich: bis einen Monat vor der Europawahl, bei der Salvinis rechtsautoritäre Bündnispartner in allen Ecken Europas Zugewinne verzeichnen dürften. Eine erstmalig verhängte Geldstrafe gegen Italien wäre für ihn Goldes wert.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.11.2018)