Töten am Fließband: Die Schlachthöfe von Chicago

Die Union Stockyards in den 50er Jahren
Die Union Stockyards in den 50er Jahren
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Henry Ford gilt als Vater der Fließbandfertigung. Doch in den berüchtigten Union Stockyards von Chicago wurde schon Jahrzehnte vorher so gearbeitet.

1913 lief in Detroit der erste Ford T. vom Band. Das Ereignis gilt als die Geburtsstunde des Fließbands, das die Industriegeschichte massiv geprägt hat. Doch Henry Fords "assembly lines" (Montage-Bänder) waren nicht weiter als eine Adaption der "disassembly lines" ("Demontage"-Bänder) der legendären Schlachthöfe von Chicago. Mehr als 80 Prozent des amerikanischen Fleisches wurden um 1900 in den Union Stockyards produziert und verpackt. 25.000 Arbeiter töteten am laufenden Band Schweine und Rinder - auf einer Fläche, die ungefähr so groß ist wie der fünfte Wiener Gemeindebezirk.

Fließbänder gab es zwar schon seit Mitte des 19. Jahrhundert vereinzelt in amerikanischen Schlachthöfen, die Massenproduktion wurde aber erst mit der Erfindung des Eisenbahn-Kühlwagens im Jahr 1877 möglich. Frisches Fleisch konnte so über weite Strecken transportiert werden.

Aufdecker Upton Sinclair
Aufdecker Upton SinclairAP

Chicago war idealer Ausgangspunkt für den Fleischhandel, denn dort trafen die Zuglinien von der Ostküste mit jenen aus dem Westen zusammen. Das Geschäft beherrschten die sogenannten „Big Five", die Unternehmer Gustavus Swift, Philip Armour, Nelson Morris, Georg Hammond und Patrick Cudahy. Die Arbeit erledigten Immigranten, viele von ihnen aus Polen, Tschechien oder Litauen. Nur 15 Minuten sollen die ungelernten Arbeiter in den Stockyards durch die Fließbänder benötigt haben, um ein Tier zu zerlegen - ein erfahrener Metzger benötigte acht Stunden, recherchierte das Wirtschaftsmagazin "Brand eins".

"Fleischgewinnung mit angewandter Mathematik"

Der Journalist Upton Sinclair bezeichnete die Produktion als "Fleischgewinnung mit angewandter Mathematik". Für seinen Roman „Der Dschungel" lebte er Anfang des 20. Jahrhunderts mehrere Wochen in den Schlachthöfen und beschrieb detailliert die eintönige Arbeit:

Da saßen Männer, die die Seiten und den Rücken schabten, und andere, die den Körper innen sauber putzten und auswuschen. Blickte man in den Saal hinunter, sah man eine hundert Meter lange Reihe hängender Tierleiber, die sich langsam vorwärts bewegte, und alle Meter gab es einen Mann, der werkte, als hetze ihn ein Teufel.

Sinclairs Berichte über die hygienischen Zustände klingen wie Schauermärchen: Rinder mit aufgeplatzten Furunkeln wurden geschlachtet, Ratten mit anderen Fleischresten zu Würsten verarbeitet. Die Inspektoren, die US-Präsident Theodore Roosvelt nach der Lektüre in die Stockyards schickten, konnten nur eine Geschichte nicht bestätigen: Ein Arbeiter soll in einen Brühkessel gefallen sein und gemeinsam mit anderen verdorbenen Zutaten zu Schweineschmalz verarbeitet worden sein.

»"Ich habe auf das Herz der Amerikaner gezielt und nur ihren Magen getroffen."«

Upton Sinclair

"Der Dschungel" wurde zum Bestseller und in 17 Sprachen übersetzt. Das Echo auf Sinclairs Enthüllungen war so groß, dass sich Roosevelt gezwungen sah, zu handeln: Noch im Erscheinungsjahr des Romans (1906) wurden die ersten Verbraucherschutzgesetze in den USA erlassen. Sinclair, der eigentlich auf die katastrophalen Arbeitsbedingungen in den Schlachthöfen aufmerksam machte, resümierte: "Ich habe auf das Herz der Amerikaner gezielt und nur ihren Magen getroffen."

Dennoch dominierte Chicago noch jahrzehntelang die Fleischindustrie in den USA. In den 20er Jahren wurden jährlich rund 13 Millionen Schweine und Rinder geschlachtet. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg ging die Ära der Stockyards zu Ende: Durch den Ausbau des Lkw-Verkehrs wurde es billiger, das Fleisch direkt beim Züchter zu schlachten. Im Jahr 1971 schlossen die Schlachthöfe von Chicago endgültig ihre Tore, nach 100 Jahren wurde damit auch ein Kapitel Industriegeschichte geschlossen.

„Die industrielle Revolution mag in England begonnen haben", schreibt „Brand eins", aber in Chicago fand eine Umwälzung statt, die „Geruchs- und Geschmacksempfindungen der Menschen ein für alle Mal verändern sollte: die Industrialisierung der Viehzucht und der Viehverarbeitung, an deren Ende Fleisch in Paketen steht, das durch nichts an das ursprüngliche Tier erinnert".

>>> "The Jungle" von Upton Sinclair im Internet (Englisch)

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