Schmelztiegel Wien: Stubenmädchen, Rastlbinder, Ziegelböhm

(c) Herbert Pfarrhofer / APA /
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Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts war die Hälfte der Wiener nicht hier geboren. Die Massenzuwanderung aus der gesamten Monarchie machte die Stadt zu einer multiethnischen Metropole mit gravierenden sozialen Missständen.

Viele Geschichten vermag eine Ausstellung über das Wien von 1870 gleichzeitig zu erzählen: die von alten herrschenden Eliten in ihren innerstädtischen Palästen; die von Goldgräberstimmung und neuem Geldadel in den bürgerlichen Wohnpalais an der Ringstraße; und die Geschichte vom unermesslichen Alltagselend zugewanderter Taglöhner, Dienstmädchen und Fabriksarbeiter im rauchigen, dunklen, dreckigen Wien der Peripherie. Nicht zentrifugal auf die Vorstädte hin war die viel gerühmte neue Prachtstraße gebaut worden, sondern wie ein Reifen legte sie sich um das Zentrum und definierte so die soziale Segregation der Gesellschaft. Außerhalb dieses Rings lebten in den inneren Vorstädten die Kleinbürger und Beamten, in den äußeren die sozialen Unterschichten und das Industrieproletariat. Diese Trennung der Stadt in ein Innen und Außen ist räumlich-territorialer Ausdruck von Macht, Abhängigkeit und soziokultureller Marginalisierung. Wie ein fester Riegel definierte die Straße die Trennung der sozialen Räume. Die Kehrseite der Prachtfassaden: Armut und Not der unteren Schichten.

Das multikulturelle Wien entsteht

Wien wuchs rasant und ohne absehbares Ende in diesem Jahrzehnt. Dem Lockruf der Prosperität folgten hunderttausende Zuwanderer aus dem agrarischen Hinterland der Hauptstadt, täglich trafen sie in Scharen auf dem Nordbahnhof und Franz-Josefs-Bahnhof ein, sie drängten in die Großstadt, um Arbeit und Lebenschancen zu finden. Teils trieb die Not sie heran, die strukturschwachen agrarischen Gebiete in den Kronländern der Monarchie konnten sie nicht mehr ernähren, teils wurden sie angezogen, der Wirtschaftsboom – vor allem in der Bau- und Textilindustrie – versprach ausreichend Arbeit. Sie siedelten sich in den neu entstehenden Massenquartieren an, es bildete sich die triste Lebenswelt der Vorstädte heraus, die Welt der Zuwanderer, Parias, Proletarier.

Wien wurde multikulturell: Es kamen slowakische Pfannenflicker, jüdische Hausierer, böhmische Schuster und Schneider, schlesische Tuchhändler, slowenische Maronibrater, aus Gebieten, die nur einige Bahnstunden von Wien entfernt waren. Junge Männer mit dunkel gebräunten Oberarmen und rotbackige Frauen brachten ihre ländlich-agrarischen Lebensformen und Denkweisen, ihr Dorf im Kopf mit. Einer von ihnen, Ferdinand Hanusch, etliche Jahrzehnte später Sozialminister, erinnerte sich an diese traumatisierende Erfahrung: „Das große Häusermeer, aus dem der Großstadtlärm dumpf herüberdrang, flößt dem am Lande Aufgewachsenen Schrecken und Entsetzen ein.“ Die Sehnsüchte der neuen Wiener zerbrachen an der Realität der Großstadt.

Beschäftigung fanden die Zuwanderer vor allem im Kleingewerbe. Doch hier war alles im Umbruch. Der Status des Gesellen, der damit rechnen konnte, sich irgendwann selbstständig zu machen, wandelte sich zum Status des Arbeiters auf Lebzeiten, der oft noch in den Haushalt des Meisters eingebunden war. „In einem Vorzimmer war auf einer ,Pablatzen‘ ein Bett frei, das mir als Schlafstelle zugewiesen wurde“, berichtete ein böhmischer Handwerker. Das bedeutete: Er hatte kaum Chancen, eine eigene Familie, einen eigenen Hausstand zu gründen. Noch schlimmer erging es den Taglöhnern, sie lebten täglich von der Hand in den Mund.

Um 1870 erreichte Wien einen Höhepunkt weiblicher Beschäftigung: 47 Prozent aller Wienerinnen gingen einem Beruf nach, meist als Dienstmädchen oder Heimarbeiterinnen. Da auf jeden erwachsenen Angehörigen des Adels oder Bürgertums ein Dienstbote entfiel, betrug der Anteil des dienenden Personals über 40 Prozent. Fürst Liechtenstein beschäftigte in seinem Palast 76 Domestiken, im einfachen Beamtenhaushalt musste das „Mädchen für alles“ sämtliche anfallende Aufgaben übernehmen. Die Frauen lebten in totaler Abhängigkeit, hatten kaum Sozialkontakte (wenn man von den sexuellen Avancen des Dienstherren absieht) und ließen ihre unehelichen Kinder oft im Gebärhaus zurück. Sie gingen als unentbehrliche böhmische Köchinnen, mährische Ammen und süßes „Wiener Madl“ in die verlogene Folklore der Stadt ein.

Massenquartiere für die neuen Wiener

Schon im Jahrzehnt nach 1850 war die Wohnsituation in Wien unerträglich, der ständige Anblick der Obdachlosen skandalös. Nach der Schleifung der Bastionen erfolgte in konzentrischen Kreisen die räumliche Neuordnung. Die neue Bauordnung sah eine schachbrettartige Parzellierung der Vorstädte nach amerikanischem Muster vor, mit geradlinige Straßen, zwei- bis dreigeschoßigen Mietshäusern in Rasterverbauung. Das waren in der frühen Gründerzeit noch erbärmliche Massenquartiere, die typischen Zinskasernen („Bassenahäuser“), die heute noch vielen Wienern geläufig sind, kamen erst später. Um die (zu) hohen Wohnungskosten abzudecken, wurden auch in kleinen Zimmer-Küche-Wohnungen noch Untermieter oder Bettgeher aufgenommen, die am Ende der Schlafenszeit das Haus wieder verlassen mussten. Denn da wartete schon der nächste Bettbenützer auf das Freiwerden der Liegestatt. Für die karg bemessene Freizeit gab es also kaum irgendeine Art von Zuhause, so blieb man auf der Straße, wo sich die Kinder schon den ganzen Tag herumtrieben. Die Straße wird das Sozialisierungsinstrument für die Kinder, das Wirtshaus oder auch die Branntweinstube zum Mikrokosmos für die außerhäuslichen, wärmestiftenden sozialen Kontakte.

Trotz der räumlichen Trennung sah das bürgerliche Wien in dem Zustrom der Migranten eine Bedrohung, fühlte sich von den Fremden überrannt. Die fremde Lebenswelt der Vorstädte wurde ausgeblendet oder dämonisiert als Zone des Sittenverfalls, des Verbrechens, der Prostitution, ein dunkler Kontinent für das Bürgertum, man wagte ihn nicht zu betreten. Wir kennen heute jedes Detail der bürgerlichen Wohnsalons, wie eine Arbeiterwohnung ausgestattet war, wissen wir nicht. Das Wien-Museum zeigt aus seinem Fundus Porträts von Unterschichtangehörigen, den „Wiener Typen“, Schusterbuben, Stubenmädchen, pittoreske Atelieraufnahmen; sonst findet man kaum Bildmaterial mit Ausnahme von klischeehaften Zeitungsillustrationen.

Die Obrigkeiten unterschieden kaum zwischen arbeitslosen und arbeitsscheuen Menschen. Hatte jemand keine Arbeit, wurde er in der Regel als Müßiggänger eingeschätzt, der sich der „Commodität und Faulheit“ hingab. Durch beharrlichen Fleiß könne sich schließlich jeder aus seiner traurigen Lage befreien. Für die Existenzsicherung der armen Schichten fühlte sich der liberale Staat nicht zuständig, seine Ideologie zielte darauf, wie man den arbeitenden Bürger von der Erhaltung Arbeitsunwilliger befreien könnte. Das geschah in der Regel durch Abschieben in die Heimatgemeinden. 1873 wurden 5461 Personen aus Wien abgeschoben, die Hälfte davon unter 24 Jahren: Der Nachweis, dass sie die Mittel zu ihrem Unterhalte besaßen oder „redlich zu erwerben suchten“, war ihnen nicht gelungen.

Prachtfassaden und Massenelend: Das „Experiment Metropole“ bedeutet für Wien nicht nur Ringstraßenglanz und Weltausstellung, sondern auch Wohnungsnot und soziales Elend. „Experiment Metropole“: Wien Museum am Karlsplatz bis 28. September 2014.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.06.2014)

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