Der verschwiegene Mauerfall

Internationalen Pressezentrum
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Der 9. November 1989 war den DDR-Medien keine Meldung wert. Der Journalistenalltag in Ostberlin war eigenartig. Rückblick eines »Presse«- Korrespondenten.

Ein paar Schritte in Mitte reichen, um einige „meiner“ Schauplätze Berlins ein Vierteljahrhundert nach dem Fall des Eisernen Vorhangs zu besuchen. Ein Blick ins Internationale Pressezentrum (IPZ) der DDR, einer in den früheren Sitz der DDR-Nachrichtenagentur ADN, einer in meine frühere DDR-Wohnung mit den sonderbaren Nachbarn. Der Bezirk Mitte lag früher auf DDR-Seite. Nirgendwo sonst sieht man mehr Veränderung. Die Bevölkerung: An die neunzig Prozent der Bewohner sind seit der Wende ausgetauscht. Kein Straßenzug, kein Haus sieht aus wie früher.

Die wohl wichtigsten Minuten der deutschen Nachkriegsgeschichte spielten sich hier ab, in der Mohrenstraße 36/37, im Internationalen Pressezentrum (IPZ) der DDR, nur einmal um die Ecke von meiner damaligen Wohnung in der Leipziger Straße, wo ich auf der einen Seite die Stasi als Nachbar hatte, auf der anderen den Palästinenser Abdel Majid Y., Waffenhändler und Geldwäscher im Auftrag der SED.

Hier im IPZ, heute Sitz des Bundesjustizministeriums, antwortete Politbüromitglied Günter Schabowski am 9. November 1989 um 18:53 Uhr auf Journalistenfragen zur Reiseregelung mit den legendären Worten, die Sperrfrist missachtend: „Das tritt nach meiner Kenntnis – ist das sofort, unverzüglich.“ Jene Worte, die in der darauffolgenden Nacht zum Mauerfall führten.


Abgerissen. Was macht Schabowski heute? Er ist nicht mehr ansprechbar. Demenz. Der Pressesaal? Abgerissen. Das Gebäude wurde entkernt. Ein wichtiger Schauplatz der deutschen Geschichte – eliminiert, entsorgt. Ein bodentiefes Schaufenster mit einer Kunstinstallation soll Passanten an die Pressekonferenz erinnern. Ein leicht geneigter Boden mit ein paar Stapelstühlen, an der Wand ein Flachbildschirm, der unentwegt Meereswellen als Symbol für Freiheit zeigt. Niemand verbindet die Szene mit der damaligen Pressekonferenz, niemand bleibt vor der Auslage stehen, kein Bild zeigt die damalige Situation, kein Kopfhörer vermittelt die Worte Schabowskis. Thema verfehlt – ebenso wie an anderen Stellen, wo etwas mehr Erinnerungskultur geholfen hätte, der Nachwelt die Teilung Berlins begreiflich zu machen.

Jetzt, zum 25. Jahrestag der Schabowski-Pressekonferenz und des Mauerfalls, lichtet sich ein Mythos von damals. Er betrifft den Journalisten Riccardo Ehrman, damals Korrespondent der italienischen Nachrichtenagentur Ansa. Unbestritten ist, dass er es war, der in der 53. Minute der Pressekonferenz Schabowski zur Reiseregelung befragte. Die entscheidenden Nachfragen jedoch – ab wann und ob dies auch für West-Berlin gelte – stammten von Peter Brinkmann, damals Korrespondent der „Bild“-Zeitung. Erst diese Fragen entlockten Schabowski die folgenreiche Formulierung. Aber Ehrman brachte vor fünf Jahren, also zum zwanzigsten Jahrestag, eine abenteuerliche Version in Umlauf, die hohe Wellen schlug und eine Neuinterpretation der Geschichte zu erfordern schien. Demnach sei Ehrman von Günter Pötschke, dem damaligen Chef der DDR-Nachrichtenagentur ADN, kurz vor der Pressekonferenz angerufen worden. Pötschke habe ihn gedrängt, unbedingt eine Frage zur Reiseregelung zu stellen. Das sei sehr wichtig. Hat das DDR-Regime etwa doch alles bloß inszeniert, weil es keinen anderen Ausweg mehr sah, Dampf aus dem Kessel zu lassen?

Das klärt sich in diesen Tagen auf. Stefan May, österreichischer Journalist in Berlin, erhielt vom Deutschlandradio Kultur den Auftrag, Riccardo Ehrman in seinem Alterssitz in Madrid zu interviewen. May hielt ihm manche Ungereimtheiten vor, die ich in meinem Buch „Menschen, Mauer, Mythen“ aufgezählt habe. Unter anderem diese wenig glaubwürdige Pötschke-Geschichte. Da machte Ehrman plötzlich einen Rückzieher. Er sagte dem Sender, Pötschke habe ihn eigentlich nur gefragt, ob er die Pressekonferenz besuchen werde. Sonst nichts.

In diesem IPZ lernte ich auf einem Journalistenempfang eine DDR-Bürgerin meines Jahrgangs kennen, ein paar Tage nach der Amtsübernahme von Ministerpräsident Lothar de Maizière. Die junge Frau war soeben stellvertretende Regierungssprecherin geworden – obwohl sie bis dahin nichts mit Medien zu tun, sondern sich mit Forschungen der physikalischen Chemie befasst hatte. Sie stand beim Empfang etwas abseits und beobachtete die Journalisten am Buffet. Ihre Zurückhaltung, die Frisur und ihr Outfit ließen ahnen, dass sie sich auf dem Parkett der Politik, der Diplomatie und der Medien nicht wohlfühlte. Aus Neugierde sprach ich sie an, auch ein wenig aus Mitleid, weil sich niemand mit ihr unterhielt. Nachdem ich mich als Korrespondent aus Österreich vorgestellt hatte, schilderte sie mir ihre ersten Erfahrungen mit westdeutschen Journalisten: Sie fand sie arrogant.

Feines Gespür. Bis zum Ende der DDR unterrichtete sie als Vize-Regierungssprecherin im IPZ über die Beschlüsse der Regierung. Oder auch nicht. Denn sie entwickelte schnell ein feines Gespür dafür, dass nicht jedes strittige Thema für die Öffentlichkeit geeignet ist. Diese Frau ist seit nunmehr neun Jahren Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland. Keiner hätte damals gewettet, dass ein Vierteljahrhundert später die höchsten Staatsämter von Ossis bekleidet werden, nämlich von Angela Merkel im Kanzleramt und Joachim Gauck als Bundespräsident.

Ein paar Schritte südwärts, Checkpoint Charlie, Grenzübergang nur für Alliierte und Ausländer, also auch für mich als Österreicher. Im dortigen Restaurant Athena II – es existiert nicht mehr – war ich Stammgast, um meine DDR-Berichte an „Die Presse“ durchzugeben. Die Telefonverbindung von meiner Ostberliner Bürowohnung war wegen der Vorkriegsleitungen so katastrophal, dass ich oft auf die Westberliner Seite rübermusste, wo mich die griechischen Kellnerinnen gerne telefonieren ließen. Sobald die Außenpolitik-Sekretärin im Aufnahmekammerl Bouzouki-Hintergrundmusik im Kopfhörer vernahm, wusste sie: Jetzt kommt ein Bericht über die DDR.

Hierher an den Checkpoint Charlie hatte sich am Abend des 10. November 1989 auch Helmut Kohl geflüchtet. Da hatte er gerade ganz schwere Stunden hinter sich. Am Vortag war er mit dem halben Regierungskabinett zu dem als historisch angelegten Besuch nach Polen aufgebrochen. Doch während des abendlichen Staatsempfangs in Warschau stürmten die Berliner die Mauer. Ausgerechnet der Historiker Kohl war zur falschen Zeit am falschen Ort. Die Geschichte hatte sich nicht Warschau, sondern Berlin als Bühne ausgesucht. Als Kohl seine Polen-Visite unterbrach und am 10. November auf abenteuerlichen Umwegen in Berlin eintraf, um vor dem Rathaus Schöneberg eine Rede zu halten, wurde er gnadenlos ausgepfiffen und niedergebrüllt. Abends schickte er die Security weg und fuhr nur mit seinem außenpolitischen Berater Horst Teltschik und dem Chauffeur an den Checkpoint. Erst hier konnte er die Freude über die Grenzöffnung ganz persönlich genießen und viele Hände schütteln –bevor er noch in der Nacht nach Bonn und am nächsten Tag zurück nach Warschau flog.


Schweigen zum Mauerfall. Weiter in Richtung Alexanderplatz, Mollstraße 1, damals Sitz des Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienstes ADN, heute Sitz des Internethändlers Zalando. Von hier aus versorgte die Monopolagentur die DDR-Medien. Außer in der Nacht von 9. auf 10. November 1989: Nach der Schabowski-Pressekonferenz kam von der DDR-Agentur mit ihren 1400 Mitarbeitern, davon 750 Journalisten: absolut nichts!

Peter Heimann, junger Nachrichtenredakteur, sah daheim die Live-Übertragung der Schabowski-Pressekonferenz und fuhr spontan in sein Großraumbüro, um die Agenturkollegen zu unterstützen. Heimann sah gerade noch den letzten Diensthabenden das Tor absperren, mit der Bemerkung: „Das ist alles ungesetzlich ...“

Heimann war in dieser Nacht der einzige Journalist in der ADN-Redaktion. Er sah im Westfernsehen, wie die ganze Welt über die Ereignisse berichtete – und vom ADN kein Wort! Am nächsten Tag erschienen die DDR-Medien mit sechsspaltigem Aufmacher über den vorgezogenen Parteitagstermin, als hätte es den Mauerfall nie gegeben. Weit nach Mitternacht setzte Heimann schweißgebadet eine Meldung von drei dürren Sätzen ab. Er hatte Angst, jetzt abgeholt zu werden. Eigenmächtig hätte er nichts aussenden dürfen. Alle Vorgesetzten hatten sich schlafend gestellt. Einen der Direktoren brachte ich später zum Eingeständnis, schwere Fehler begangen zu haben: „Selbstverständlich hätten wir als DDR-Nachrichtenagentur aus allen Rohren schießen müssen.“

Steckbrief

1977–1985
Redakteur der „Presse“ in Wien.

1985–2003Korrespondent der „Presse“ in Bonn und Berlin.

2009–2014
Chefredakteur EurActiv.de, seit 2014 Chefredakteur von korrespondenten.tv.

Autor von „Menschen, Mauer, Mythen – Deutsch-deutsche Notizen eines Wiener Korrespondenten“, Mitteldeutscher Verlag.
privat

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.11.2014)

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