Die Wendekinder und ihr Bild vom Leben der anderen

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Themenbild(c) REUTERS (FABRIZIO BENSCH)
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Für die Post-1989er-Generation ist das vereinte Deutschland Normalität. Unter der Selbstgewissheit schimmern aber Bruchlinien durch.

Sonntags vibriert der Mauerpark, eine grasbedeckte Narbe der Berliner Teilung zwischen den Bezirken Prenzlauer Berg und Wedding, gleichsam vor Aktivität. Deutschtürken sprayen die Wände des Friedrich-Ludwig-Jahn-Parks voll, jener Arena, in der der ehemalige Stasi-Fußballklub BFC in der Regionalliga Nordost vor schütterer Kulisse seine Heimspiele austrägt. Boccia- und Basketballspieler gehen ihrem Freizeitvergnügen nach. Die Polizei zieht in der Grünen Minna – einem altgedienten VW-Bus – ihre Runden, während englische Artisten, australische und amerikanische Sänger ihr großteils internationales Publikum bei Laune halten.

In Karawanen strömen lässige Müßiggänger aus allen Teilen Europas vom mittäglichen Brunch aus der Bernauer Straße und der Oderberger Straße herbei, um auf den Flohmarktständen dicht gedrängt nach Raritäten und Originellem zu stöbern, nach Schmuck, Schallplatten oder Klamotten. Sie parlieren Französisch, Spanisch oder Holländisch. Vor dem Mauersegler, einem beliebten Lokal, vermischt sich der Duft der Thüringer Rostbratwurst mit dem kosmopolitischen Lebensgefühl der Flaneure mit dem Hang zu Biosäften. Süßliche Jointschwaden und metallene Jazzklänge erfüllen die Luft.

Unter einem Baum, abseits des Trubels, haben sich Greta und ihre Freunde, eine Gruppe von 15, zu einem veganen Frühstück niedergelassen. Schüsseln mit Zucchinistreifen, Weintrauben und Orangen liegen auf einer Picknickdecke ausgebreitet. Dass sie hier in unmittelbarer Nähe des Grenzstreifens zusammenhocken, ist freilich den wenigsten bewusst. Die 17-jährige Greta geht noch zur Schule. „Die DDR ist nicht mehr präsent, ich kenne sie nur vom Hörensagen. Aber ich habe ein Bild vom Osten im Kopf.“

Um Dimension und Schrecken der „Schandmauer“ zu erfassen, müsste sie nur die Bernauer Straße ein paar hundert Meter in Richtung Mauergedenkstätte hinunterschlendern, entlang des Mauerwegs mit seinen rostfarbenen Eisenstelen, die die damalige Grenze markieren, mit dem Wachturm auf dem Sophienfriedhof und der Originalmauer. Schicksale in Form von Gedenktafeln und Granitplatten, wie jene für Bernd Lünser oder Olga Segner, beide bei Fluchtversuchen im Herbst 1961 getötet, pflastern den Weg. Gerade in den Anfangstagen der Mauer ließen Dutzende ihr Leben, als sie in der Bernauer Straße aus Fenstern auf die Straße und in den Tod sprangen statt in die vermeintliche Freiheit oder sich durch Tunnel in den Westen buddelten.

Neulich erwiesen die Außenminister John Kerry und Frank-Walter Steinmeier den Mauertoten hier ihre Reverenz, und Kerry erinnerte sich mit Schaudern an seine Fahrradexpedition als Zwölfjähriger in den 1950er-Jahren in den Osten Berlins. Zuweilen klagen Touristen darüber, dass die Mauer aus dem Stadtbild verschwunden ist. Doch das 25-Jahr-Jubiläum des Mauerfalls weckt dieser Tage vielerorts in Berlin die Erinnerung an den Kalten Krieg, nicht nur bei den Touristenattraktionen an der East Side Gallery an der Spree oder am Checkpoint Charlie.

Für die Wendekinder, die Generation der Post-1989er, die damals in den Kinderschuhen steckten oder noch gar nicht geboren waren, ist all dies eine Mahnung an eine graue Vorzeit – selbst für jene, die in der früheren DDR mit den dazugehörigen Anekdoten aufgewachsen sind. Das wiedervereinigte Deutschland ist für sie zur Selbstverständlichkeit, zur Normalität geworden.

Die Spitze des Alexanderturms, des weithin sichtbaren Wahrzeichens des früheren Regimes, ist vom Nebel verschluckt, die Oper Unter den Linden eingerüstet. Vis-à-vis, an der Humboldt-Universität, stapeln sich Second-Hand-Bücher in den Bananenschachteln, darunter einige über die deutsche Teilung zu zwei oder drei Euro. Drinnen, vor der Germanistikbibliothek, hängt Hannes Luckwitz ein Plakat an der Pinnwand auf, das gegen das Freihandelsabkommen mit den USA agitiert.


Sozialisation im Osten. „Ich war ein Jahr alt, als die Mauer fiel“, sagt der Volkswirtschaftsstudent aus Sachsen-Anhalt, einem der fünf Ostbundesländer. „Das ist alles lang her, das spielt keine Rolle mehr“, fasst er die Stimmung unter seinen Kommilitonen über die Wende zusammen. Als Sohn zweier SED-Parteimitglieder hat ihn seine Sozialisation geprägt. „Die Arbeitslosigkeit meiner drei Onkel war ein großes Thema in der Familie. Meine Eltern schätzten die soziale Sicherheit, sie traten für einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz ein, für ein Ende der Indoktrinierung, für Reformen und eine Ablöse der verknöcherten Führung.“ Der 26-Jährige führt die Familientradition quasi fort, er engagiert sich für die Studentenorganisation der Linkspartei.

Auf einer Bank nebenan checkt Marie-Luise Kolmbach ihre E-Mails auf dem Laptop. Die 26-jährige Soziologiestudentin aus Frankfurt/Main schwärmt von der Dynamik Berlins, vom Zusammenwachsen zwischen Ost und West: „Das ist superspannend.“ Sie seziert das West-Ost-Schema, die Klischees zwischen dem „guten“ und dem „bösen“ Staat, und relativiert: „Der Gewinner schreibt die Geschichte. Mein Eindruck ist: Da wurde einfach der Westen über den Osten gestülpt. Der Osten wird heute stigmatisiert.“

Für eine Freundin aus Leipzig sei dies Teil ihrer Familiengeschichte. „Aber mit mir hat das nicht sehr viel zu tun.“ Für sie mutet die mal verklärte, mal vernichtende DDR-Saga an wie die Geschichten ihrer Mutter aus der Ära der Studentenproteste anno 1968 in Frankfurt, wie ein Echo aus einer verwehten Zeit. Aus ihrer Analyse spricht der abgeklärte Pragmatismus einer Generation, die die Propagandamaschinerie des Kalten Kriegs unberührt ließ.

In der Mensa benennen Jan und Lukas, zwei Studenten aus Nordrhein-Westfalen, die charakterlich-mentalen Unterschiede zwischen West und Ost. „Unsere Freunde aus der ehemaligen DDR betrachten die Dinge differenzierter. Sie sind gute Zuhörer, weniger oberflächlich, und sie produzieren sich nicht. Sie treten zurückhaltender, bescheidener auf.“ Ihre Beobachtung über die Osterziehung ist durch Studien auch wissenschaftlich fundiert.

Bei jungen Deutschen existiert die psychische Barriere, die „Mauer im Kopf“ nicht mehr, die viele Ältere daran hindert, dem früheren Klassenfeind unvoreingenommen zu begegnen und deren Vorurteile sich oft in Witzen entladen. Manchen Wessis aus dem Rheinland und dem Ruhrgebiet ist Mallorca näher als die Ostsee in Mecklenburg-Vorpommern. Bei den Jungen sind die Hemmschwellen längst gefallen, zum Studium in den Osten zu ziehen. „Meine Eltern fanden es schon komisch, als ich nach Berlin ging statt nach München oder Hamburg“, erklärt Kathrin, eine 27-jährige Theaterwissenschaftlerin aus Bayern, während sie sich auf dem Campus eine Zigarette anzündet.

In Ostberliner In-Vierteln wie dem Prenzlauer Berg tummeln sich ohnehin mittlerweile so viele Zuzügler aus dem Westen, dass die Ressentiments gegen die „Schwaben“ in Hassparolen und Graffiti ihren Ausdruck finden. Hier ist die Gentrifizierung, der Verdrängungsprozess gegenüber der alteingesessenen Bevölkerung, praktisch abgeschlossen. Umgekehrt scheint der langjährige Trend vom Abzug der jungen Ossis in den Westen, das Ausbluten mancher Regionen gestoppt. „Die ersten kommen wieder zurück“, berichtet Judith Striebel, eine Veterinärmedizinstudentin, von ihrem Dorf im Spreewald in Brandenburg. „Ich gehe definitiv wieder heim.“

Unbefangen wechseln die deutschen Studenten in Berlin von der einen Universität zur anderen, von der Humboldt-Uni in Mitte zur FU tief in den grünen, gutbürgerlichen Westen der Stadt, nach Dahlem, ins Villenviertel mit dem dörflichen Charakter und der Ballung von Mercedes-Limousinen in den Seitenstraßen. Weil in der Bibliothek des legendären Otto-Suhr-Instituts, der Politologieabteilung der Freien Universität und Kaderschmiede der 1968er-Bewegung, eine angenehme Atmosphäre herrscht, blättern Judith und ihre französische Freundin hier in ihren Skripten. „Ich bin so erzogen worden, dass ich eine Ossi bin – und stolz darauf.“ Bei ihr spielt überdies die Tradition der Sorben eine Rolle, einer polnischen Minderheit in Ostdeutschland.


Familienwerte. „Wir sind offener, herzlicher, neugieriger.“ An Selbstbewusstsein mangelt es der 27-Jährigen tatsächlich nicht, wenn sie Familiensinn und Zusammenhalt preist. „Zu viel Westen ist nicht gut, aber in den alten Osten will man auch nicht mehr zurück“, lautete ihr Credo. „Unvorstellbar, wie sehr man eingeengt war. Für unsere Eltern bedeutete das Ende der DDR den Fortschritt, für uns ist die Mauer aber nur noch Historie.“

Im Hörsaal D sitzen derweil die Studenten im Seminar „Grundlagen und Kontroversen der Konfliktforschung“ in Gruppen über einem Papierbogen, auf dem sie Kreise malen und Stichworte notieren. Um die DDR und den Kalten Krieg geht es hier nicht, sondern um Fallbeispiele der aktuellen Krisenherde und um die afrikanischen Flüchtlinge, die vor Lampedusa umkommen. Die Anfangszwanziger Marie, Felix, Jahne und Jonas stammen alle aus dem Westen, und bis zu ihrer Übersiedlung nach Berlin war der ehemals erbitterte Ost-West-Konflikt in ihrer Heimat kein Thema. Für den Hobbykicker Felix aus Bonn offenbaren sich die Differenzen am ehesten noch auf dem Fußballplatz: „Die aus dem Osten gehen härter zur Sache.“ Und was bleibt von der DDR? „Das Ampelmännchen und FKK“, sagte er nach einer kurzen Nachdenkpause mit ironischem Unterton, der ihm im Osten wohl als typische westdeutsche Arroganz ausgelegt würde. Klaus Schroeder gibt ihm recht – und auch wieder nicht. „Die aus dem Westen quatschen viel öfter dummes Zeug.“ Der Professor, ein Experte für die „Ossi-Seele“, erklärt: „Gerade beim Blick zurück gibt es eine Diskrepanz zwischen den Jungen in West und Ost. Die Einstellung wird von Generation zu Generation tradiert, und im Osten haben viele Mitleid mit ihren Eltern.“ Ehemalige DDR-Bürger empfänden sich vielfach als Verlierer, als Menschen zweiter Klasse, sie seien mit einem Minderwertigkeitskomplex geschlagen. „Diese Unsicherheit überträgt sich dann auch auf die Kinder. Da wird wenig kritisch hinterfragt, und die Eltern reden wiederum nicht über ihre Verstrickung.“


Fluchtpunkt Ostalgie. Unter dem Motto „So schlimm war der Sozialismus auch nicht, es war nicht alles schlecht“ gäben sich viele Ältere in einer Abgrenzungsmentalität einer Ostalgie hin. „Sie fühlen sich ein wenig fremd in einer fremden Welt. Und im Westen interessiert sich kaum noch jemand für die DDR. Dabei haben West und Ost mehr gemeinsam, als sie eingestehen möchten“, lautet Schroeders Befund. Die „cleveren Ossis“, merkt er an, würden nicht hervorkehren, dass sie aus dem Osten kommen. Dies gilt mitunter als Karrierehemmnis. Prototyp ist Angela Merkel, einst bei ihren Parteifreunden im Westen als „Zonenwachtel“ verschrien. Dass die Pastorentochter und der Ex-Pastor Joachim Gauck als Präsident an der Spitze des Staates stehen, ist ein politisches Phänomen.

Vor der Zionskirche in Prenzlauer Berg sind Fahrräder am Geländer angekettet. Während nach Ende der Sonntagsmesse die Kirchenglocken läuten, verabreden sich am Vorplatz zwei Pärchen zum Brunch. „Ohne den Fall der Mauer hätten wir uns nicht kennengelernt“, unkt Karin, eine gebürtige Westfälin, die mit dem Software-Entwickler Jan aus dem sächsischen Zwickau verheiratet ist. „Wir reden nicht groß über unsere Herkunft, sehr wohl aber unsere Eltern. Mein Vater kommt ja aus dem Osten, also bin ich eine halbe Ossi.“ Scherzend wirft Jan ein: „Sonst hätte ich dich auch nicht geheiratet.“

Wie die Zionskirche war auch die Gethsemanekirche, zwei U-Bahn-Stationen weiter nördlich, Hort des Widerstands gegen das DDR-Regime und Heimat von Dissidenten und Umweltaktivisten. In seiner Predigt über Moses und die Zehn Gebote donnert Pastor Heinz-Otto Seidenschnur mit salbungsvoller Stimme über das „Unrechtssystem“ DDR und diejenigen, die es sich immer noch schönreden. „Die Teilung Deutschlands war die Strafe für die Nazi-Zeit.“ Er preist das „Wunder der zweiten Chance“. Aus Dankbarkeit werden sich die Gemeindemitglieder der beiden Kirchen am 9. November im Amphitheater am Mauerpark einfinden, um eine Gedenkmesse zu feiern. Und an der ehemaligen Grenze werden in den Abendstunden weiße Heliumballons in den Himmel aufsteigen.

STATISTIK

Zufriedenheit. Im Vorjahr bezeichneten sich nach einer Allensbach-Umfrage 23 Prozent der ostdeutschen Bürger als Verlierer der Wiedervereinigung. Auf einer Skala von 1 bis 10 bewerteten sie die Zufriedenheit mit der Einheit mit sieben. 75 Prozent sehen die Wiedervereinigung positiv (im Westen nur 48 Prozent). Ein Viertel der Westdeutschen beklagt, dass die Wiedervereinigung ihnen Nachteile gebracht habe (im Osten 15 Prozent).

Politisches System. 57 Prozent der Ostdeutschen finden das politische System der BRD besser, 19 Prozent das der DDR.

Jugend. 96 Prozent der Ostdeutschen bis 29 begrüßen die Wiedervereinigung (aber nur 66 Prozent der Westdeutschen).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.11.2014)

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