Die Welt bis gestern

Flüchtlinge: Die Menschen an unserer Grenze

Viele Parallelen quer durch drei Jahrhunderte. Hier Flüchtlinge im Ersten Weltkrieg.
Viele Parallelen quer durch drei Jahrhunderte. Hier Flüchtlinge im Ersten Weltkrieg.Österr. Volkshochschularchiv / picturedesk.com
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Ein neuer Sammelband beschäftigt sich mit Flüchtlingsströmen in der Geschichte Österreichs seit dem 18.Jahrhundert. Es gibt erstaunlich viele Konstanten.

Wie soll ein Land mit Menschen umgehen, die über seine Grenzen strömen, etwa weil sie unter den Herrschaftsverhältnissen in ihrer Heimat leiden? Wie ein Magnet wirkte die südliche Grenze der Habsburgermonarchie im 18. Jahrhundert, es kam zu einer gewaltigen demografischen Umwälzung, viele Untertanen des Sultans wollten hinaus aus dem Osmanischen Reich. Wie wurden sie empfangen? Nicht viel anders als Flüchtlinge heute, es gab Gruppen, denen die heimische Verwaltung zugetan war, etwa Katholiken, zu anderen hatte sie ein angespanntes Verhältnis, etwa zu den Roma. Religion und Nützlichkeit waren entscheidende Kriterien für den Umgang mit den einströmenden Gruppen. Doch die Entscheidung, was und wer ein Flüchtling ist, scheint im 18.Jahrhundert noch verschwommener gewesen zu sein als heute.

Hatten die Beamten damals überhaupt eine Vorstellung davon, wer als Flüchtling zu betrachten war? Der Historiker Timothy Olin hat sich die behördlichen Depeschen aus den Archiven herausgeholt und zunächst einmal im „Goethe-Wörterbuch“ nachgeschlagen, das den Wortschatz des 18.Jahrhunderts aufschlüsselt. „Flüchtling“ ist hier jemand, der vor Verfolgung flieht, sich vor dem Militärdienst drückt oder als ein „Unheilbringer“ gilt. Gänzlich unscharf wird es, wenn man einen Unterschied zum Wortgebrauch „Emigrant“ oder „Auswanderer“ herauszuarbeiten versucht.

Egal, ob Flüchtling oder Emigrant, das Gebiet des Banat an der Südgrenze Österreichs war ein perfekter Raum für Zuwanderer. Das Gebiet war nämlich leer. Zuvor war es von den Osmanen vernachlässigt, dann durch ständige Kriege verwüstet worden. Die Christen hatten ihr Heil in der Flucht gesucht. So war die Ansiedlung von Untertanen der Osmanen, die gewisse kulturelle Verbindungen zum Banat hatten, gar nicht so übel, zumal die Grenze auch verteidigt werden musste. So entstand die sogenannte Militärgrenze, „ein Sammelplatz lebhaften Treibens und der Ansiedlung von Flüchtlingen und Abenteurern aus dem Osmanischen Reich“ (Olin).

„Ein Türl mit Seitenteilen“

Gab es zur Kontrolle der Zuwanderung so etwas wie ein „Türl mit Seitenteilen“, wie ein ehemaliger österreichischer Bundeskanzler formulierte? Ja, genau so etwas. Bereits zur Zeit von Maria Theresia gab es sogenannte Contumaz-Stationen, über die alle aus dem Osmanischen Reich Geflüchteten ins Land kommen sollten. Sie hinterließen bei den Ankommenden wohl einen bleibenden Eindruck. Es war ein von einem Zaun umgebener Verschlag mit zwei Durchgängen – einer führte ins Habsburgerland, der andere wieder heim zum Sultan.

Wie durch einen Trichter wurden die Menschen durchgeschleust. Steckten sie im Contumaz, befanden sie sich im Niemandsland, in dem sie 21Tage lang verweilen mussten, so lang dauerte es, bis man sich klar über ihren gesundheitlichen Zustand war. Olin entdeckte auch ein Formular für einen solchen osmanischen Untertanen, in dem die Untersuchung bestätigt wurde. Es war vorgedruckt, und der Beamte musste nur die entsprechenden Rubriken ausfüllen. Der Grenzübergang war also bereits ein regulierter und bürokratisierter Vorgang.

Natürlich gab es Versuche, diese Schleusen zu umgehen und die österreichischen Grenzer auszutricksen. Ein Fall von 1759 ist dokumentiert, er betraf die Walachen, halbnomadische Viehzüchter und Hirten. Kamen sie illegal über die Grenze, wurden sie gefangen genommen, ausgepeitscht und ausgewiesen. Das Vorgehen der Behörden an der Grenze kam allerdings in Wien gar nicht so gut an: Die Kameralistik der Zeit sah vor, die Bevölkerung mit allen Mitteln zu vermehren und die Anwerbung neuer Untertanen zu fördern, wenn sie nicht gerade bettelarm und unsauber waren. Die Personen an der Grenze und die in den Kanzleien in Wien waren da nicht immer einer Meinung, wie der Fall der Ausweisungen zeigt.

Es gab immer wieder Bevölkerungsgruppen, die mit dem Begriff Außengrenze oder Binnengrenze wenig anzufangen wussten, sie lebten als Nomaden und Grenzgänger, neben den Walachen gehörten die Roma dazu; sie hielten an ihren archaischen Bewegungsmustern fest. In den 1770er-Jahren zum Beispiel erklärten etliche Walachen aus dem Banat, nur ihre Freunde in Siebenbürgen besuchen zu wollen, und wurden nie wieder gesehen. Sich an die Normen und Reglementierungen der maria-theresianischen Bürokratie zu halten fiel ihnen gar nicht ein. Sie wanderten, wie Olin schreibt, „ein und aus, nicht, weil sie mussten (wie etwa Flüchtlinge), sondern, weil sie wollten“.

Die hier beschriebenen historischen Fakten aus der Geschichte der Militärgrenze sind in dem neuen Sammelband „Aufnahmeland Österreich“ zu finden. Er geht von der gegenwärtigen Situation rund um die Flüchtlingskrise von 2015 aus und wirft ein Schlaglicht zurück auf die vergangenen 300Jahre der österreichischen Geschichte. Die Parallelen im Umgang mit Vertriebenen sind erstaunlich. Was da im Herbst 2015 „passiert“ ist, ist historisch gesehen nichts Neues. Österreich war immer wieder mit Situationen konfrontiert, in denen in sehr kurzer Zeit eine große Anzahl von Flüchtlingen Aufnahme suchte.

Der zeitliche Rahmen des Bandes ist breit angelegt, die geschilderten Zustände im Banat gehen am weitesten zurück, viele Flüchtlinge kamen aus dem Westen infolge der Französischen Revolution, es gab Ströme von jüdischen Flüchtlingen aus dem Zarenreich, Flüchtlingsströme in den beiden Weltkriegen, während der Ungarn-Krise und des Zerfalls Jugoslawiens.

Das Gefühl der Überforderung

„Das heißt nicht, dass das immer leicht war oder der Situation besser begegnet wurde“, so der Herausgeber des Sammelbandes, der Historiker Börries Kuzmany vom Institut für Neuzeit- und Zeitgeschichteforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Rund um die Versorgung, Verteilung und Integration der Flüchtlinge habe es etwa 1956 ähnliche Debatten gegeben, als fast 200.000 Menschen nach dem Volksaufstand in Ungarn über unsere Grenzen strömten. Die Situation entspannte sich damals dadurch, dass viele weiterreisten.

Die Analysen historischer Flüchtlingsbewegungen in diesem Buch könnten dazu verhelfen, die heutige Situation zu relativieren. Wenn es nicht zu Versorgungsengpässen wie im Ersten Weltkrieg kam, war die heimische Bevölkerung auch durchaus bereit zu helfen. „Das scheint etwas universell Menschliches zu sein“, so Kuzmany, und er fügt hinzu: „Jede Flüchtlingskrise der vergangenen 300 Jahre ist auf die eine oder andere Art bewältigt worden. Das kann dazu beitragen, eine gewisse Gelassenheit in die heutige Zeit zu bringen.“ Auch in der Vergangenheit seien Politik und Öffentlichkeit gelegentlich überfordert worden, aber das Land sei nicht untergegangen.


Börries Kuzmany, Rita Garstenauer: „Aufnahmeland Österreich“
Mandelbaum Verlag, 260 S., 19,90 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.03.2018)

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