Wenn uns die Orientierung fehlt

Das Brandenburger Tor in Berlin um 1870.
Das Brandenburger Tor in Berlin um 1870.Roger Viollet/Getty Images
  • Drucken

Durch die Lektüre von Christopher Clarks Buch „Von Zeit und Macht“ bekommt man einen neuen Blick auf die Gegenwart von Brexit, Trump und Nationalismus.

„Ich möchte nicht zu einer Generation von Schlafwandlern gehören“, so Frankreichs Präsident Macron in seiner großen Grundsatzrede vor dem EU-Parlament im April dieses Jahres. Er kennt offenbar Christopher Clarks Buch „Die Schlafwandler“ über die europäische Staatenwelt zu Beginn des Ersten Weltkriegs. Auch Angela Merkel hat das Buch gelesen. Es taucht dann in Reden auf, wenn es um die Verteidigung der demokratischen Werte Europas gegen autoritäre Strömungen geht.

Wie konnte der in Cambridge lehrende britisch-australische Historiker mit diesem Buch so viel Einfluss erlangen? Indem er Geschichte schreibt mit dem Blick auf die Gegenwart. Auch in seinem soeben erschienenen Buch „Von Zeit und Macht“, das tief in die Geschichte Preußens zurückreicht, hält er sich daran. Am Ende des Buches sieht der Leser die Gegenwart von Brexit, Trump und aktuellem Nationalismus neu.

Christopher Clarks Buch bietet eine Geschichte des Zeitbewusstseins. Seine Frage ist: Wie geht Politik mit der Zeit um? Er untersucht das intuitive Gespür der Machthaber für die Struktur der erlebten Zeit. Verdrängen sie die Vergangenheit oder lassen sie zu, dass sie Einfluss auf die Gegenwart nimmt? Empfinden sie die Gegenwart als Bewegung oder Stillstand? Haben sie Angst vor der Zukunft?

Traditionelle Gesellschaften interpretieren Ereignisse der Gegenwart gern im Licht von Analogien aus der Vergangenheit. Die Geschichte ist ein Schatz positiver Beispiele, hier kann man rekurrieren. Der Fluss der Zeit beschleunigt sich jedoch in der „Sattelzeit“ zwischen 1750 und 1850. Das vergrößert die gefühlte Distanz zur Vergangenheit, Schlüsselbegriffe wie „Revolution“, „Fortschritt“ und „Staat“ signalisieren Wandel und Disruption. Revolutionen durchtrennen den Strang der Kontinuität mit der Vergangenheit. Damit ist auch die Autorität der Geschichte infrage gestellt.

Die Machthaber beginnen sich für die Zeit zu interessieren, sie führen neue Kalender ein, legen ihren Untertanen ein Zeitmanagement auf, schaffen religiöse Feiertage ab wie Joseph II., führen einen „republikanischen“ Kalender ein wie die Revolutionäre in Frankreich, erziehen die Eingeborenen zu Zeitdisziplin wie die Kolonialmächte, teilen die Tage der Woche neu ein wie Stalin. Das Ziel: das Verhältnis der Menschen zur Zeit neu zu ordnen.

Clark wählt für seinen Diskurs über Zeit und Macht vier Herrschaftssysteme aus der deutschen Geschichte, in der er sich am besten auskennt. Er beginnt mit Brandenburgs Großem Kurfürsten, Friedrich Wilhelm, der ab 1640 48 Jahre lang regierte. Der Hohenzollern-Fürst kannte also noch die katastrophale Vergangenheit, den Dreißigjährigen Krieg, und fühlte die Exponiertheit seiner zusammengewürfelten Monarchie angesichts einer Zukunft voller militärischer Gefahren.

Geschichte als Schule des Fürsten

Stets war er auf die regionalen Eliten angewiesen, die Stände mit ihren Privilegien, die ihm kein starkes Zentralheer gönnten und von einem staatlichen Ganzen nichts wissen wollten. Sie verwiesen auf die Vergangenheit und bestanden auf ihren alten Rechten. Ihr Horizont war der der Provinz. Der Kurfürst und seine Beamten aber blickten in die Zukunft, sie entwickelten ein „aktivistisches Geschichtsverständnis“ (Clark) und koppelten sich ab von der Tradition. Die Ermahnungen des Kurfürsten an seine Stände erinnern an die Solidaritätsappelle an die EU-Mitglieder im Interesse der Union heute.

Sein Urenkel Friedrich II. der Große erlebte während seiner Herrschaft (1740–1786) gewaltige geopolitische Umwälzungen, ja er trug selbst maßgeblich dazu bei, Preußen zur Großmacht zu machen, Maria Theresia wusste ein Lied davon zu singen. Doch der Unterschied zur dynamischen Geschichtlichkeit seines Ahnen ist denkbar groß. Im Mikrokosmos des kulturell konservativen Königs schien die Zeit stillzustehen.

Geschichtsreflexion war seine Leidenschaft, die Geschichte als „Schule der Fürsten“. Sie erweitere den Erfahrungskompass. Der Roi philosophe gefällt sich in der Pose dessen, der schon alles gesehen hat, und identifiziert sich mit Autoritäten aus der römischen Antike. Die Geschichte eines Staates sei wie die Bahn eines Gestirns, das stets in einer ewigen Abfolge an seinen Punkt zurückkehrt. Das erklärt den gesellschaftspolitischen Stillstand und seine Gelassenheit trotz der gefährlichen Ereignisse, die er erlebte.

1848 wurden neue Kräfte entfesselt. Die Lokomotive Geschichte bewegte sich auf Gleisen über aufgebrochenem Untergrund. Otto von Bismarck erlebte die Dynamik historischer Prozesse, das neue Wechselspiel der Interessen im Parlament und in der Gesellschaft. Bestand und Zusammenhalt gab es für ihn nur durch den Vorrang des monarchischen Staates. Er musste dafür sorgen, dass alles bleiben konnte, wie es war, mit äußerster Flexibilität, durch rasch wechselnde Bündnisse und behutsame Steuerung und Kontrolle, ohne ideologische Scheuklappen. Gelang das nicht, konnte man die Gegner im Gleichgewicht halten oder gegeneinander ausspielen: „Es gibt Zeiten, in denen man liberal regieren muss, und Zeiten, in denen man diktatorisch regieren muss, es wechselt alles, hier gibt es keine Ewigkeit.“ Der Staatsmann als Proteus und Schachspieler. Jeder Schritt erzeugt eine neue Ausgangssituation.

Schauer vor „deutscher Größe“

Der Nationalsozialismus leugnete jede Kontinuität zur aktuellen Vergangenheit der Republik vor ihm, man habe da eine hoffnungslos zerrüttete Zeit geerbt. Er sah sich als Begründer einer neuen Epoche. Mit der Vorstellung von Geschichte als unaufhaltsamer Vorwärtsbewegung des Wandels konnte er nicht viel anfangen.

Geschichte ist lediglich Zufall, Abweichungen von einem alten Muster, das mit „deutscher Größe“ bezeichnet wird und Schauer der Ehrfurcht hervorrufen soll: Die germanische Vor- und Frühgeschichte, als sie noch frei von fremden Einflüssen war. Clark: „Das Regime der Nationalsozialisten verankerte sich überhaupt nicht im Entwicklungs- und Fortschrittsnarrativ der ,Geschichte‘, sondern in der nicht linearen Zeit des völkischen Daseins.“

Christopher Clark findet starke Worte zu unserer Gegenwart: „Die Zeiten drehen sich wie die Nadel eines defekten Kompasses. Wir haben überhaupt keine Orientierung mehr“, sagte er jüngst dem „Spiegel“. Er schrieb sein Buch „unter dem Getöse und Triumph der Brexit-Kampagne in Großbritannien.“ Wir kennen die Schlagworte von Boris Johnson und Co. nur allzu gut: Sie verherrlichen eine idealisierte Vergangenheit. Es gelte, wieder die Kontrolle zu übernehmen und so einen Zustand wie früher, als das Empire Macht hatte, herzustellen.

Dann gewann Trump die Wahlen in den USA, mit einer politischen Vision, die mit der neoliberalen, globalisierten Zukunft gleich auch eine Menge wissenschaftlicher Erkenntnisse etwa über den Klimawandel bekämpft. Die Theoretiker hinter ihm vertreten ein zyklisches Geschichtsbild. Alle 80 bis 100 Jahre sei eine Zeit der Umwälzung in der Geschichte der Nationen fällig.

Die alten amerikanischen Werte

Trump zieht durch die Lande und will die kaputte Infrastruktur und Spaltung der Gesellschaft in seinem Land mit Rückgriffen auf die Vergangenheit sanieren. „Wir werden den Stahl zurück nach Pennsylvania bringen, wie es früher war.“ Früher seien die amerikanischen Werte unverfälscht gelebt worden und daher die Gesellschaft noch intakt gewesen.

Jubel darüber auch in gewissen Kreisen Europas. Die USA seien dabei, ihre „Zukunft zurückzuholen“, so Marine Le Pen. Andere Länder in Europa bieten auch den Rückschritt an, beginnen eine diffuse alte Zeit neu zu konstruieren, die „Reinheit“ ihrer Nationen wie früher zu propagieren. Der gemeinsame Nenner ist die Beschwörung der Vergangenheit, Clark nennt das den „Retro-Anstrich der zeitgenössischen politischen Rhetorik“. Im Gegensatz dazu biete Europa, folge man Macron, eine Zukunft.


Christopher Clark,
„Von Zeit und Macht“,
DVA-Verlag,
320 Seiten, 26 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.11.2018)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.