Wie 1600 Juden in Wien im Untergrund den NS-Terror überlebten

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Anne Frank schilderte das Leben im Versteck - nun gibt es die erste umfassende Studie zum enorm belastenden Leben jüdischer Wiener im Untergrund während der NS-Zeit.

"Es gab kein Vertrauen mehr, ich lebte in einer feindlichen Umwelt", beschrieb Paul Grosz jene Monate zwischen Ende 1944 und der Befreiung von der Nazi-Herrschaft, die er im Untergrund verbracht hatte. Er war einer von über 1600 Juden, die die NS-Zeit in Wien als U-Boot überlebt haben.

In ihrem Buch "Schattenexistenz" schildert Brigitte Ungar-Klein detailliert das Los dieser wenig bekannten Gruppe. Dass Juden während der NS-Diktatur versuchten, durch Untertauchen am Leben zu bleiben, ist nicht nur durch die Schilderungen der Anne Frank bekannt. Ungar-Klein hat mit "Schattenexistenz", das am Donnerstag im Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands präsentiert wird, allerdings die erste umfassende Studie zu jüdischen U-Booten in Wien in den Jahren 1938 bis 1945 vorgelegt. Die frühere Direktorin des Jüdischen Instituts für Erwachsenenbildung schildert darin nicht nur die Geschichten der Untergetauchten - darunter etwa die Autoren Robert Schindel und Elfriede Gerstl - sondern auch jener, die ihnen allen Gefahren zum Trotz zu Hilfe kamen.

Vielfältige Gründe für Leben im Untergrund

1634 Menschen Juden lebten laut Ungar-Kleins Forschungen zwischen 1938 und 1945 in Wien im Verborgenen. Die Hälfte davon war weiblich, jeder Zehnte unter 21, die mit 660 Personen größte Gruppe waren gläubige Juden. Bis zum Ende des Kriegs sollte nur ein kleines Grüppchen übrigbleiben.

Die Gründe, wieso sich jemand zum Leben als U-Boot entschied, waren vielfältig: Viele rechneten damit, dass sich Hitler und die Nazis ohnehin nicht lange an der Macht halten würden. Auch Krankheiten - eigene oder von Familienmitgliedern - führten dazu, dass die Flucht so lange hinauszögert wurde, bis sie mit Beginn des Krieges legal praktisch nicht mehr möglich war.

Der Weg in die Illegalität folgte dann oft spontan. Rosalia Ista entschied sich dafür, als sie sah, wie "Ausheber" Bewohner ihres Wohnhauses für die "Umsiedlung" nach Polen abholten: "Menschen wurden von der SS mit Peitschen auf Lastwagen getrieben, wurden geschlagen und getreten. Sie haben mehrere Häuser ausgehoben, es war ganz furchtbar." Sie riss sich den gelben Stern vom Gewand, irrte die ganze Nacht durch die Stadt und tauchte schließlich gemeinsam mit ihrer Schwester unter.

Vorgetäuschte Suizide

Das Leben im Untergrund schildert Ungar-Klein als enorme Belastung. Weil U-Boote keine Lebensmittelkarten hatten, waren sie auf Essensspenden angewiesen. Die Quartiere waren oft eng, die Untergetauchten durften nicht mit Geräuschen auffallen, sich nicht am Fenster zeigen, als WC-Ersatz musste ein Kübel herhalten. Manch einer konnte über Jahre hinweg kaum auf die Straße gehen. Wegen der Schwierigkeiten, einen Arzt zu holen, konnten selbst banale Infekte lebensbedrohlich werden.

Gänzlich im Verborgenen lebten dabei nur wenige. Mitunter fuhren sie den ganzen Tag mit der Straßenbahn von einer Endstation zu anderen, weil sie nicht wussten, wo sie unterkommen sollten. Nur die Hälfte konnte über die Jahre am selben Ort untertauchen, jeder Achte musste ständig Unterkunft wechseln. Um zumindest nicht mehr aktiv von den Nazis gesucht zu werden, täuschten manche ihren Suizid oder ihre Deportation vor, andere legten sich durch manipulierte Papiere eine neue Identität zu.

Taubstumm, um nicht aufzufallen

Wer den Nazis beim Aufenthalt im Freien nicht in die Hände fallen wollte, durfte um keinen Preis auffallen. Die Untergetauchten taten viel dafür, um nicht als "jüdisch" zu gelten - vom Haarefärben bis zur Tarnidentität als Taubstumme, um sich nicht durch jiddisches Deutsch zu verraten.

Auch den Helfern, ohne die das Überleben im Geheimen unmöglich gewesen wäre, widmet sich Ungar-Klein. Zwar taten dies nicht alle aus hehren Motiven, manche verlangten dafür Geld oder Arbeit und setzten die Versteckten mit Drohungen unter Druck. Doch das war laut Ungar-Klein nur ein kleiner Teil. Der Arzt und Journalist Hugo Glaser, der die gesamte NS-Zeit im Verborgenen verbrachte, schildert es so: "In einer Zeit, in der die Bestialität genormt war, war für Freundschaft wenig Platz. Aber sie war doch da, hie und da, selten, aber herrlich wunderbar, göttlich, menschlich, wie sie in gewohnten Zeiten nie sein kann."

Zum Buch

Brigitte Ungar-Klein: "Schattenexistenz - Jüdische U-Boote in Wien 1938-1945", Picus Verlag, 376 Seiten, 28 Euro.

Buchpräsentation im Gespräch mit Heinrich Ehlers und Robert Schindel, mit einer Einführung von Brigitte Bailer, am Donnerstag, 27. Juni, um 18 Uhr im Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands, Wien I, Wipplingerstraße 6-8.

(APA)

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