Eingefahren

Im Tiergarten Schönbrunn war er schon lange nicht mehr gewesen, überlegte Enter. Bestimmt war es über drei Jahre her...

Tage wie diese hatten Seltenheitswert. Franz Enter war erst um 8.40 Uhr aufgestanden, hatte Kaffee zugestellt, zwei Kaisersemmeln ins Backrohr geschoben und ausgiebig geduscht. Er konnte sich gar nicht mehr erinnern, wann er das letzte Mal so fröhlich vor sich hin gepfiffen hatte. Wenn das die Kollegen hörten, war es um seinen Ruf als ewiger Grantscherbn geschehen. Dem fühlte sich der Kriminalinspektor durchaus verpflichtet, wobei es ihm normalerweise nicht schwerfiel, schlechte Laune zu verbreiten. Erstens war ihm als waschechtem Wiener sowieso eine gewisse negative Grundstimmung in die Wiege gelegt worden. Zweitens war er ein schlecht bezahlter Beamter, der drittens meistens von Idioten oder Leichen umgeben war. Zudem hatte er sich vor einiger Zeit das Rauchen abgewöhnt, nahm seither ständig zu, war meistens auf Diät und entsprechend hungrig. Momentan kümmerte ihn das aber alles nicht, befand er sich doch in bester Gesellschaft, nämlich allein zu Hause.

Enter trank einen Schluck Milchkaffee und biss von der zweiten reschen Kaisersemmel ab, die nicht zu knapp mit Butter und Marillenmarmelade beschmiert war. Nach der Beinschinkensemmel mit Gurkerl hatte sein Körper erwartungsgemäß nach einem süßen Abschluss verlangt, den er ihm nur allzu gern gönnte. Der Abwasch konnte getrost bis zum Abend warten, heute war ihm nach einem Ausflug zumute. Im Tiergarten Schönbrunn war er schon lange nicht mehr gewesen, überlegte Enter. Bestimmt war es über drei Jahre her, dass er mit seiner Nichte das Pandajunge bestaunt hatte, das wenige Monate zuvor im Tiergarten geboren worden war. Beim Anblick von Fu Hu, dem glücklichen Tiger, hatte Lucy damals vor Vergnügen gekreischt. Fast hätte es Enter das Trommelfell zerrissen. Aber Lucy war Lucy, die durfte sogar lärmen, obwohl ihr Onkel höchst empfindliche Ohren besaß. Inzwischen kreischte die Kleine nur noch beim Anblick von Justin Bieber, den Enter anfangs ebenfalls für einen Zoobewohner gehalten hatte, bis seine Nichte ihn aufklärte, dass es sich bei dem vermeintlichen Nagetier um einen Popstar handelte. Ihm sollte es recht sein.

Enter beschloss, mit der U-Bahn zur Kennedybrücke zu fahren, im Tiergarten würde er ohnehin noch einige Kilometer zurücklegen. Wäre er bloß mal lieber zu Fuß nach Schönbrunn spaziert...

Auf der Rolltreppe, die in den Untergrund führte, überholte ihn ein kleiner, stämmiger Mann in kurzen Hosen und Sandalen, der es offenbar sehr eilig hatte. Am Hinterkopf zeichnete sich deutlich eine Glatze ab, während die dunkle Behaarung seiner Waden und Arme bei Enter – angesichts des bevorstehenden Besuchs im Tiergarten – Assoziationen mit einem Schimpansen hervorrief. Und mit der Gerichtsmedizinerin. Die Produktion stimme zwar, nur die Distribution ließe zu wünschen übrig, erinnerte er sich an ihren launigen Kommentar, als sie eine ähnlich stark behaarte Leiche mit kahlem Kopf neulich obduziert hatte. Ihren speziellen Humor schätzte Enter, behielt dies aber für sich.

Hinter seinem Rücken vernahm er einen Mann und eine Frau, die lautstark miteinander redeten. Verstehen konnte er sie allerdings nicht, noch nicht einmal eindeutig die Sprache zuordnen. War das Russisch? Oder Polnisch?

Die nächste U-Bahn wurde in zwei Minuten in der Station erwartet, verriet ihm die Anzeigetafel. Enter trat einen Schritt nach hinten, um das Paar, das sich noch immer in einer slawischen Sprache unterhielt, passieren zu lassen. Beim Anblick der beiden war er sich fast sicher, dass es sich um Russen handelte, so sehr entsprach die Blondine dem Klischee. Nicht nur, dass sie auffallend stark geschminkt und teuer gekleidet war, vermittelte sie den Eindruck, als würde sie in ihren Designerhacken über den roten Teppich stöckeln anstatt über einen Wiener U-Bahn-Steig. Auf den Papiertragetaschen, die ihr Begleiter trug, prangten die Logos internationaler Luxusmarken. Die beiden kamen einige Schritte vor dem Schimpansenmann zu stehen.

Die Minutenanzeige auf der Tafel sprang von zwei auf eins. Schon kündigte ein Rauschen im Tunnel die Ankunft der U-Bahn an. Das Nächste, was Enter vernahm, war ein schriller Schrei, der ihn erneut zur Russin blicken ließ. Ihr Mann drohte jeden Moment nach vorn zu fallen und auf die Gleise zu stürzen. Verzweifelt ruderte er mit den Armen, die Einkaufstaschen flogen in hohem Bogen durch die Luft. Der Schrei der Russin wurde von der einfahrenden U-Bahn übertönt. Enter war bereits losgerannt, um den Mann vor einem tödlichen Sturz zu bewahren, als dieser doch noch von allein das Gleichgewicht wiederfand. Die U-Bahn hielt in der Station an.

„Der da war's! Er hat ihm an Stesser geb'n“, rief eine ältere Dame und zeigte auf den Schimpansen. Enter stand direkt neben dem mutmaßlichen Angreifer und packte ihn am Arm. „Alles in Ordnung?“, rief ihm der U-Bahn-Fahrer zu. „Verständigen Sie die Polizei!“, erwiderte Enter. Ein junger Mann packte den Angreifer beim anderen Arm, um ihn festzuhalten. „Ich hab auch gesehen, dass er den Herrn gestoßen hat“, sagte er. Die erste Zeugin war inzwischen im Zug verschwunden, dessen Türen sich eben schlossen.

„Es tut mir leid“, stotterte der Angreifer, während der Russe auf dem Boden hockte und von seiner Frau berieselt wurde. „Ich hab ihn nicht absichtlich gestoßen. Ich hab mich nur gebückt, um meinen Schuh zuzubinden. Dabei hab ich ihn wohl gerempelt. Ich wollte das wirklich nicht“, versicherte er.

„Schon gut“, sagte Enter und winkte den beiden Polizisten zu, die sich gerade von der Rolltreppe näherten. „Ich brauche mir noch nicht einmal das Überwachungsvideo anzusehen, um zu wissen, dass Sie den Mann absichtlich gestoßen haben. Verraten Sie mir auch, warum?“

„Weil ich Russen hasse. Dieser Putin stürzt noch die ganze Welt ins Verderben“, antwortete der Mann und ließ sich in Handschellen abführen. Enter sah ihm kopfschüttelnd nach.


Warum wusste Enter, dass der Mann gelogen hatte?


Lösung der vergangenen Woche:

Doblhofer verdächtigt Bayer. Denn dieser behauptet, nicht zu wissen, was für ein Getränk für Swoboda bestimmt war, erkundigt sich bei Doblhofer aber, ob er schon wisse, wer Swoboda das Mittel in den Tee gegeben habe. Also weiß er doch, dass Swoboda Tee trinkt! Das hat Doblhofer ihm gegenüber aber gar nicht erwähnt.

Die Autorin

Claudia Rossbacherhat in Städten von Teheran bis Osaka gelebt und als Model, Texterin und Kreativdirektorin gearbeitet. Seit 2006 schreibt sie Kurzkrimis und Kriminalromane. Ihr Alpenkrimi „Steirerblut“ wurde für den ORF verfilmt. „Steirerkreuz“ ist aktuell für den Buchliebling nominiert. Abstimmung auf www.buchliebling.com

Rafaela Pröll

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.06.2014)

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