Gehen mit Zufall und Erkenntnis

Strassenpflaster mit Fuessen
Strassenpflaster mit Fuessen(c) www.BilderBox.com
  • Drucken

Sie gehen, doch ihr Ziel ist nicht der Sonntagsausflug oder sportliche Leistungen. Immer mehr Menschen entdecken den Spaziergang als Instrument für städtebaulichen Fragen und künstlerische Aktionen.

Gehen ist die Methode, in einer Stadt, die man glaubt gut zu kennen, doch noch Neues zu entdecken“, meint Christoph Laimer. Nicht umsonst heißen sein Verein für Stadtforschung, die vierteljährlich erscheinende Zeitschrift und die Radiosendung, die er in Wien gemeinsam mit Elke Rauth betreibt – „Dérive“ – „das heißt so viel wie herumziehen, umherschweifen, ohne Zielgerichtetheit“, erklärt Laimer. Seit dem Jahr 2000 driften die beiden mit anderen Experten durch die weitverzweigten städtebaulichen und gesellschaftlichen Diskurse sowie durch die naheliegenden und entlegenen Stadträume.

Wer geht, spaziert, promeniert, flaniert, marschiert macht die Stadt „zu einem Objekt der Forschung“, sagt Laimer. Mehr noch vielleicht, wenn er einer Spielanweisung folgt, die Laimer und Rauth auf Basis einer Idee der Situationistischen Internationale, einer Avantgarde-Bewegung aus den Sechzigerjahren, entwickelt haben.

Unter dem Namen „laboratoire dérive“ wird der Zufall zum Ausgangspunkt unorthodoxer, spontaner und fantasievoller Stadterforschung. Plötzlich im Neuland unterwegs zu sein, bringe eine „höhere Aufmerksamkeit für die Umgebung. Es geht dabei auch darum, aus der alten Routine herauszukommen, weil man in der Stadt immer auf den gleichen Strecken unterwegs ist.“ Die Regeln sind einfach: Man bildet eine Kleingruppe, trifft sich an einem Verkehrsknotenpunkt und hat einen Würfel, einen Fahrschein und ein Medium zum Dokumentieren (Notizblock, Smartphone, Kamera) mit. Am Start wird ausgemacht, wer was genau festhält, dann wird gewürfelt: einmal, um das Verkehrsmittel zu wählen, ein zweites Mal, wie viele Stationen gefahren werden. Regel Nummer vier lautet etwas kryptisch: „Ergebt euch der Psychogeografie.“ Damit ist gemeint, sich von der Wirkung der Umgebung vor Ort leiten zu lassen, mit Neugier und Bauchgefühl zu Fuß durch eine Gegend zu streifen. Bis am Ende alle zu einem Ergebnis gekommen sind, setzt die Gruppe den Ablauf fort.

Am Ende wird die erforschte Strecke dokumentiert und im Web archiviert. Laimer und Rauth versprechen sich auch von solchen Beobachtungen aufschlussreiche Beiträge zur angewandten Stadtforschung. Der nächste Anlass, dies in einem größeren Rahmen zu versuchen, ist ihr Festival Urbanize!, das seit vier Jahren jeden Herbst in Wien stattfindet.

Brache, nicht Idyll. Die Füße bringen Menschen an Orte, die das Auto nicht erreicht. Und in der Langsamkeit der Bewegung sehen und erkennen sie Dinge, die während einer Fahrt an ihnen unbemerkt vorbeifliegen. Daher ist das Gehen ein simples und demokratisches Instrument, um Umwelt neu und intensiver wahrzunehmen. Vor allem Räume, die per se keine schönen, durch Literatur und Malerei tradierten Spazierlandschaften oder Idylle sind. Nicht selten spazieren Gruppen durch städtische Ränder, Baulücken, Problemzonen, um konkrete planerische oder soziale Fragen zu bearbeiten. „Aber es gibt auch jene, die das Gehen als essenziellen Teil ihrer künstlerischen Praxis betrachten“, ergänzt Bertram Weisshaar, Fotograf, Landschaftsplaner und Autor von „Spaziergangswissenschaft in Praxis“. Ein beispielreiches Buch über jene „fröhliche Wissenschaft“, die Lucius Burckhardt definiert und vermittelt hat, ab 1973 war er Professor für Sozioökonomie urbaner Systeme in Kassel.

Burckhardts Erkenntnisse und Methoden – etwa über das sequenzielle Sehen und die kulturelle Vorgefertigtheit von Landschaftsästhetik – haben inzwischen Eingang in verschiedene Studienfächer und Disziplinen gefunden. Sie kamen bis nach Wien, wo Weisshaar – ein Schüler Burckhardts – auch auf der Universität für angewandte Kunst im Bereich Landschaftsplanung gelehrt hat.

Die Briten sagen „strollology“. Heute subsumieren unter Spaziergangswissenschaft alias Promenadologie (die Briten sagen „strollology“) viele Namen von „Formaten der Fortbewegung“: Baukultouren, Stadtsafaris. Talk Walks, Arttours, Audio Walks. Ob im Umfeld von Planung und Städtebau, im sozialen oder künstlerischen Kontext – jeder Spaziergang ist einzigartig und unwiederholbar, aktionistisch und individuell durch seine Teilnehmer. „Bei relativ vielen werden vorher eine Strecke, das Thema und die Stationen entwickelt, sodass dann am Ende bestimmte Dinge deutlich werden. Dann gibt es das Format der dialogischen Spaziergänge: Ein Experte von außen, etwa ein Architekt, unterhält sich entlang der Route mit jemandem, der eher die Nutzerperspektive einbringt, ein qualifizierter Laie, ein lokaler Experte“, sagt Weisshaar. Als künstlerische Aktionen nennt er etwa jene Konzeptspaziergänge der Schweizerin Marie-Anne Lerjen, die man am nächsten Maiwochenende rund um das Trinationale Festival des Spazierens (www.raumforschung.ch) im Großraum Basel mitmachen kann. Einmal entwickelte sie eine Wegstrecke nur anhand einer Schablone, die beliebig auf einen Stadtplan gelegt wird. „Der Ausschnitt ist relativ zufällig. Man versucht, dieser Linie zu folgen.“

Als Weisshaar selbst 1998 mit einer Gruppe in einer deutscher Braunkohlelandschaft unterwegs war, erlaubten sie sich ein paar gärtnerische, künstlerische Eingriffe. Fotografien davon zeigen nun die Schönheit eines Ortes, von dem man sie nicht erwartet hätte. „Aus ganz unterschiedlichen Motivationen und Professionen wird das Gehen als Ausdrucksweise genutzt. Künstler wie Richard Long waren schon in den Sechzigerjahren allein unterwegs und reflektierten dies in ihren Arbeiten.“

Fahrt nach Tahiti. Der 2003 verstorbene Burckhardt, auf den sich nach wie vor so viele beziehen, sah im gemeinschaftlichen Gehen das Mittel zur Forschung, Kommunikation und Erkenntnis. Thematisiert hat er immer wieder die Prägung des Sehens von Landschaft. Seine „Fahrt nach Tahiti“ bei der Documenta 1987 wurde zum Schlüsselereignis. Burckhardt hatte eine historische Situation rekonstruiert: Captain Cook und Georg Forster wandern im Jahr 1773 über Tahiti. Was entdecken sie da? Und wie vermitteln sie es so, dass es die anderen auch verstehen? Trocken und theoretisch war seine Spaziergangswissenschaft nie, sondern originell und manchmal auch provokant. Bis heute gilt: die Beteiligung des Bewohners an seiner Umwelt, die er nicht passiv den Planern und Verwaltern überlassen sollte.

Ein Stück gehender Bürgerbewegung lebt bis heute weiter: An diesem Maiwochenende werden in über 100 Städten weltweit Menschen an einem Jane's Walk teilnehmen. Entstanden ist dieser 2007 in Toronto, ein Jahr nach dem Tod seiner Inspirationsfigur, Jane Jacobs. Seit den Fünfzigern wurde die Architektur- und Städtebaukritikerin nicht müde, die Probleme der urbanen Entwicklungen aufzuzeigen. In der Nachkriegszeit mussten viele gewachsene Viertel der autogerechten Stadt weichen: Ganze Areale wurden planiert und durch Monokulturen ersetzt. Heute weiß man, dass es den Nutzungsmix, soziale Durchmischung und Verdichtung in einer funktionierenden Stadt braucht. Jacobs' Engagement in einer Bürgerbewegung jedenfalls bewirkte, dass zumindest das New Yorker Greenwich Village nicht abgerissen wurde und – wie die Lower East Side – durch uniforme Bebauung ihr Gesicht verlor. Mit dem Pamphlet „The Death and Life of Great American Cities“ 1961 war sie ihrer Zeit voraus. Auch weil sie die Stadt aus der Perspektive des Fußgängers, Anrainers und sozial Schwächeren heraus gedacht hat.

zu fuss

Dérive – Verein für Stadtforschung: Urbanismusplattform, Magazin und Radiosendung. Weiters Initiator von Urbanize!, Festival für urbane Erkundungen, www.derive.at, www.urbanize.at

Bertram Weisshaar,Herausgeber von „Spaziergangswissenschaft in Praxis. Formate in Fortbewegung“, bei Jovis, www.jovis.de,
www.atelier-latent.de, www.spaziergangswissenschaft.de

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.05.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.