Das Ende des Terrordramas an Mailands Peripherie

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TOPSHOT-ITALY-GERMANY-ATTACK-SUSPECTAPA/AFP/DANIELE BENNATI
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Zwei italienische Polizisten stoppten die Flucht des Terroristen Anis Amri nach rund 80-stündiger Flucht. Die Regierung in Berlin atmete auf.

Gelbe, mit Ziffern und Buchstaben beschriftete Positionstafeln, blaue Plastiksäcke, die mit einer goldenen Schutzfolie bedeckte Leiche und dazwischen die Forensiker in weißen Overalls bei der Spurensicherung: Sie markierten Freitagfrüh den Tatort am Platz des 1. Mai, dem Vorplatz des Bahnhofs von Sesto San Giovanni, einem Industrievorort von Mailand. Hier fand das Drama, das dreieinhalb Tage zuvor auf dem Weihnachtsmarkt vor der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche seinen Ausgang genommen hatte, sein Ende. Nach 80-stündiger Flucht lag Anis Amri, niedergestreckt von Kugeln zweier italienischer Polizisten, auf dem Asphalt. Rechtzeitig vor Weihnachten, nachdem deutsche Fahndungsbehörden in die Kritik geraten waren.

Nachdem die Identität des Terroristen zweifelsfrei feststand, war die Erleichterung groß: Die Berliner Ermittler und Politiker sagten zu ihren italienischen Kollegen herzlich „Grazie“. Gratulationen und Respektsbezeugungen allerorts. Und in Italien avancierten die beiden Polizisten, die auf Amri geschossen hatten, zu Helden: Der junge Polizist, der den Tunesier erschossen hatte, hatte seinen Dienst erst vor neun Monaten angetreten. Der zweite Beamte liegt mit einer Schusswunde im Spital.

Italiens neuer Innenminister, Marco Minniti, würdigte bei seinem ersten großen Auftritt ausgiebig die Polizeiarbeit und rühmte die Polizisten, denen bei einer Routinekontrolle um 3.30 Uhr Amri über den Weg gelaufen war. Auf die Frage nach Papieren hatte er sich erst als Süditaliener ausgegeben, als aber die Beamten auf Dokumente beharrten, rief er: „Polizisten, ihr Bastarde!“ Und eröffnete postwendend das Feuer. Mit derselben Pistole vom Kaliber 22, mit der in Berlin der polnische Lkw-Fahrer ermordet worden war.

Zu diesem Zeitpunkt ging man in Deutschland noch davon aus, dass der Terrorist sich im Raum Berlin aufhielt. Ermittler hatten die Stadt auf den Kopf gestellt, U-Bahnen gestoppt und eine Razzia in der Moabiter Moschee, dem Treffpunkt des Salafistenvereins Fussilet 33, angeordnet. In diesem Dunstkreis hat sich der Attentäter bewegt, und ganz in der Nähe nahm er auch ein Video auf, in dem er als „Märtyrer“ dem IS und seinem Führer Abu Bakr al-Baghdadi die Treue schwor. Dieses Video veröffentlichte am Freitag prompt die IS-eigene Nachrichtenagentur Amaq.

Drei Tage war Amri wie von der Bildfläche verschwunden, ehe er aus Frankreich kommend, mit einem Zug von Chambery in den französischen Alpen, in Italien eintraf – erst in Turin, wo er in einen Regionalzug nach Mailand umstieg. Dort kam er um 1 Uhr nachts auf dem Hauptbahnhof an. Danach reiste er weiter nach Sesto San Giovanni, wo er möglicherweise einen Kontaktmann treffen wollte. In seinem Rucksack fand man später nur ein Messer, eine Zahnbürste und einige Hundert Euro – aber kein Handy.

In Italien schloss sich der Kreis von Anis Amri. Und in den beinahe sieben Jahren seit seiner Ankunft auf der Insel Lampedusa hat er die Entwicklung von einem Kleinkriminellen zum gemeingefährlichen Terroristen vollzogen. Zum Höhepunkt der tunesischen Revolte im Jahr 2011 hatte er wie so viele seiner Landsleute die Heimat verlassen, um ein neues Leben in Europa zu beginnen: Er strandete auf Lampedusa, gab sich dort als Minderjähriger aus. Im Flüchtlingslager fiel er umgehend auf, suchte Streit, bedrohte andere Flüchtlinge. Als er gemeinsam mit anderen Randalierern das Camp in Brand setzte, landete er im Gefängnis: Vier Jahre saß er in der Haft ab, hier lernte er Italienisch. Weil er gewalttätig war und als „sicherheitsgefährdend“ galt, wurde er von Anstalt zu Anstalt transferiert.

In der Zeit wurde aus dem rabiaten jungen Mann ein islamischer Terrorist. Die Behörden hatten ihn jedenfalls schon früh auf dem Radar: Der Tunesier galt als „Anführer“ islamistischer Häftlinge. Demonstrativ jubelte er, nachdem Jihadisten im Jänner 2015 ihr Blutbad in der Redaktion des Pariser Satireblatts „Charlie Hebdo“ angerichtet hatten. Einem christlichen Mithäftling drohte Amri gar, den Kopf abzuhacken.

Eigentlich hätte der Tunesier nach seiner Entlassung im Sommer 2015 ausgewiesen werden sollen, doch die tunesischen Behörden verweigerten dessen Identifizierung – und somit die Rücknahme. Die Italiener ließen ihn laufen, obwohl er damals schon von der Anti-Terror-Behörde als „gefährlich“ eingestuft worden war. Laut Mailänder Polizei hätte der Tunesier möglicherweise erneut zugeschlagen. Italiens Premier, Paolo Gentiloni, warnte in einer Stellungnahme davor, sich in falscher Sicherheit zu wiegen. „Die Bedrohungslage bleibt ernst.“


Hektischer Vorweihnachtstag. Ähnlich war hinterher der Tenor in Berlin, als sich an einem hektischen Vorweihnachtstag erst Innenminister Thomas de Maizière zu Wort meldete. Einerseits zeigte er sich froh über das Ende des Terrordramas, das die deutschen Behörden auf Trab gehalten hatte – in Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und nicht zuletzt in Berlin.

De Maizière hielt sich dann auch gar nicht lang mit dem Erfolg auf. Die Ermittlungen würden mit Hochdruck weitergeführt, betonte er, wie um den Ernst der Lage zu unterstreichen. Vor allem die Fragen nach einem etwaigen Unterstützernetzwerk, den Hintergründen der Tat und danach, wie Amri so lang durch die Maschen schlüpfen konnte, treibt die deutschen Behörden um. Die Kritik an ihrem Vorgehen bei der Fahndung wollte vorerst auch nicht verstummen. Der Innenminister sprach von rechtlichen Konsequenzen, vor allem davon, die Abschiebungen zu beschleunigen.

Das letzte Wort blieb der Kanzlerin vorbehalten. Angela Merkel hatte zuvor mit dem greisen tunesischen Präsidenten Essebsi telefoniert. Sie war um einen optimistischen Ton bemüht, freilich nicht ohne auf die Opfer zu vergessen, deren Angehörigen sie ihre Anteilnahme ausdrückte. Und sie richtete sich auch an jene Wähler, bei denen sie in der Flüchtlingskrise ihr Ansehen und ihre Glaubwürdigkeit verspielt hatte. „Der islamistische Terror fordert uns immer wieder aufs Neue heraus.“ Im Wahljahr 2017 muss sie dies unter allen Umständen zu verhüten versuchen. Ihr Credo bleibt indes unberührt: „Unsere Demokratie, unser Rechtsstaat, unsere Werte werden stärker sein als der Terror.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.12.2016)

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