Der „ewige Kanzler“ und seine Erbin aus dem Osten

Zum 75. Geburstag Helmut Kohls im April 2005 richtete die CDU im Deutschen Historischen Museum in Berlin einen Festakt aus. An der Seite Angela Merkels zeigte sich der patriarch in voller blüte und versöhnt.
Zum 75. Geburstag Helmut Kohls im April 2005 richtete die CDU im Deutschen Historischen Museum in Berlin einen Festakt aus. An der Seite Angela Merkels zeigte sich der patriarch in voller blüte und versöhnt.imago/Mauersberger
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Als „Vater der Einheit“ ebnete Helmut Kohl den Weg für Angela Merkel. Als überzeugte Europäerin und als Weltpolitikerin ist die Pastorentochter in dessen Fußstapfen getreten.

Sieben Jahre war Helmut Kohl im Herbst 1989 schon Regierungschef, als sich vor dem CDU-Parteitag in Bremen im September eine interne Revolte gegen den Patriarchen abzeichnete. Die Bundesrepublik prosperierte, doch nach Meinung vieler Kritiker des ungeliebten Kanzlers hatte sich Mehltau über Deutschland gelegt. Heiner Geißler, der scharfzüngige Generalsekretär, ein jesuitisch geschulter Stratege und langjähriger Kohl-Intimus, sah die Zeit für einen Putsch gekommen. Unter seiner Regie hatten sich Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth, Sozialminister Norbert Blüm und Lothar Späth, der als Ministerpräsident von Baden-Württemberg den Spitznamen „Cleverle“ trug, als „Königsmörder“ gegen den Kanzler verschworen.

Kohl bekam allerdings Wind von der Sache – und Späth, der auserkorene Nachfolger, schließlich kalte Füße. Der Macht- und Instinktpolitiker Kohl saß den Aufstand buchstäblich aus und schlug ihn so nieder. Mit einem wegen eines Prostataleidens schmerzverkrümmten Gesicht thronte er am Podium 17 Stunden lang über den Parteitag, wie er in einem ausführlichen TV-Interview fast ein Vierteljahrhundert später süffisant erzählte. Die Revolte brach in sich zusammen. Geißler, Blüm oder später auch Bundespräsident Richard von Weizsäcker fielen in Ungnade. Wer einmal sein Loyalitätsgefühl verletzte hatte, für den hatte er nur noch beißenden Spott übrig.


Elefantengedächtnis. Die Episode ist bezeichnend für den Machtstil des Rekordkanzlers. Hinter der Mauer, die zwei Monate später fallen sollte, verfolgte eine junge Physikerin in Berlin-Adlershof das Schauspiel in Bremen und zog ihre Lehren daraus. Angela Merkel, eine gebürtige Hamburgerin und damals 35 Jahre alt, wollte damals nur in den Westen und einmal im Westberliner Konsumtempel KaDeWe Austern schlürfen. Es war ihr Begriff von Luxus, und ihr Lebenstraum bestand darin, einmal in die USA zu reisen – am liebsten nach Kalifornien, an den Pazifik und die universitären Kaderschmieden an der Westküste.

Kohl, ein Koloss von einem Mann mit Gusto für deftige Kost und heimischen Wein, hatte ein Elefantengedächtnis – im Guten wie im Schlechten. Als Strippenzieher der Macht hatte er sich als Provinzpolitiker in Rheinland-Pfalz angewöhnt, lokalen Honoratioren und deren Frauen zu Geburtstagen zu gratulieren. In langen Telefonaten pflegte er sein Netzwerk und spann seine Intrigen. Von seinem Schreibtisch aus etablierte er das „System Kohl“, die vollständige Durchdringung des Parteiapparats. Die Politik war sein Leben, und seine Familie blieb trotz aller Inszenierung bei den Urlauben in St. Gilgen am Wolfgangsee immer mehr auf der Strecke. Am Ende blieben Verbitterung und private Dramen.

Als Modernisierer war Helmut Kohl in den 1960er- und 1970er-Jahren erst als Ministerpräsident in Mainz und danach als Oppositionsführer in Bonn angetreten, die noch vom Mief der Adenauer-Ära geprägte CDU zu öffnen. Gegen alle Anfeindungen der linksliberalen Hamburger Medienhäuser „Spiegel“, „Stern“ und „Zeit“, gegen die Herablassungen Helmut Schmidts auf sozialdemokratischer und des CSU-Titanen Franz Josef Strauß' auf konservativer Seite, gegen die Verunglimpfung als „Birne“ und trotz mancher Rückschläge kämpfte sich der notorisch unterschätzte CDU-Chef als gewiefter Taktiker nach oben. Es ist eine Parallele zum Aufstieg Merkels, die sich als Frau in der Männerdomäne der CDU behauptete und an der die Häme über ihre Frisur und ihren Modegeschmack abperlte wie Tau im Frühjahr.

Als Kohl 1982 in einem Misstrauensvotum die sozialliberale Koalition unter Schmidts Ägide stürzte und vollmundig eine „geistig-moralische Wende“ proklamierte, dachte auch kaum einer, dass sich der Mann aus Oggersheim lange halten würde – geschweige denn 16 Jahre, länger als Konrad Adenauer. Merkel ist den beiden konservativen Galionsfiguren mit nunmehr beinahe zwölf Jahren dicht auf den Fersen.

Helmut Kohl vereinte viele Facetten in sich: Er verkörperte den brutalen Machtpolitiker und barocken Lebemenschen, den absolutistischen Herrscher und Gefühlsmenschen, den Pragmatiker und Visionär. Die politische Leidenschaft strömte ihm aus allen Poren. Er scheute im Eifer des Gefechts nicht davor zurück, gegen Demonstranten loszugehen. Zugleich gefiel er sich als jovialer Schulterklopfer. Ihn umgab stets die biedere Aura der Bonner Republik: Seine Strickjacke ist längst im Haus der Geschichte ausgestellt. Merkels Hosenanzüge werden dereinst dort ebenso als Objekte zu bewundern sein.

Doch Kohl schwang sich zum Staatsmann von Weltformat auf, der vor allem in den 1990er-Jahren die Niederungen der deutschen Innenpolitik hinter sich ließ. Das Klein-Klein der Parteipolitik, die Reform des Wohlfahrtsstaats interessierten ihn immer weniger. Vielmehr hatte er das große Ganze im Auge: die europäische Einheit, die Einführung des Euro, die Außenpolitik und ihre Gestaltungskraft in der Welt an der Seite von Bill Clinton oder Boris Jelzin. Darin ist ihm im Übrigen Angela Merkel nicht unähnlich. Womöglich wächst im Lauf der Jahre ja der Drang, als Player in der Weltpolitik mitzumischen.


„Mantel der Geschichte“. Der Herbst 1989 markierte indessen einen Wendepunkt. Innerhalb weniger Wochen wendete sich das persönliche Schicksal des Kanzlers, des Landes und des Kontinents. Das Ende der Ära Kohl schien tatsächlich nah, da kamen ihm die historischen Ereignisse – die Demonstrationen, der Umbruch im Ostblock und die friedliche Revolution – zu Hilfe. Ungarn hatte angesichts des Andrang der DDR-Flüchtlinge den Eisernen Vorhang zerschnitten, die deutsche Botschaft in Prag platzte aus den Nähten – und Kohl wäre vom Krankenbett aus am liebsten selbst dorthin geeilt. Er witterte die Gunst der Stunde.

Der Historiker Kohl ergriff den „Mantel der Geschichte“, von dem er oft und gern sprach, und hielt daran fest. Mit Tempo, Verve, Beharrlichkeit und Zielstrebigkeit trieb er das Projekt voran. In Wolfgang Schäuble, den später so bitter enttäuschten Kronprinzen, hatte er einen Adlatus, der mit juristischer Finesse ans Werk ging. Für den Gemütsmenschen Kohl zählten in der Politik Vertrauen, persönliche Beziehungen und Handschlagqualität. Diese Tugenden brachte er in die Verhandlungen um die deutsche Einheit ein.

An Margaret Thatcher, der Chemikerin und Premierministerin, scheiterte seine Charmeoffensive zwar grandios. Zu den anderen Protagonisten baute er jedoch Lebensfreundschaften auf, die sich im entscheidenden Moment bewährten. Jean-Claude Juncker, George Bush sen. und Michail Gorbatschow gaben bei ihren Würdigungen am Freitagabend beredt Zeugnis davon ab. Beim Begräbnis des französischen Präsidenten François Mitterrand kullerte Kohl eine Träne übers Gesicht. Kohls amikaler Polit-Stil manifestierte sich nicht zuletzt bei einem Besuch 1990 im Kaukasus, als er Gorbatschow mit Hilfe eines Milliardenkredits die Zustimmung für die Wiedervereinigung abrang.

So sehr Helmut Kohl als „Vater der Einheit“, als glühender Anhänger der deutsch-französischen Freundschaft und als Verfechter Europas glänzte, so sehr hinterließ er in seiner Partei einen Scherbenhaufen. In den 1990er-Jahren begann der schleichende Niedergang. In seiner Hybris klammerte sich Kohl an die Macht – bis zur Abwahl 1998 und der Ablöse durch die rot-grüne Koalition unter Gerhard Schröder.


„Kohls Mädchen“. In der Parteispendenaffäre präsentierte sich die sonst so zaudernde Angela Merkel als legitime Erbin des Machtpolitikers, als sie 1999 als CDU-Generalsekretärin in einem Gastkommentar in der „FAZ“ den Ehrenvorsitzenden Kohl und letztlich Parteichef Wolfgang Schäuble kaltblütig abservierte. Der Patriarch war zu seinem Ehrenwort gestanden und hatte sich geweigert, die Namen der Spender zu enthüllen und die CDU so mit in den Abgrund gerissen.

Innerhalb von zehn Jahren hatte „Kohls Mädchen“, wie er sie einmal gönnerhaft nannte, einen Lernprozess in punkto Macht unterlaufen. Die Pastorentochter war in den Wirren des Wendejahres eher zufällig zur ostdeutschen Schwesterpartei der CDU gestoßen, und nach der Wiedervereinigung fiel der Blick Helmut Kohls auf die Physikerin. Sie verkörperte in vielem das Gegenteil von ihm selbst und der Elite der westdeutschen CDU: evangelisch, geschieden, kinderlos. Dass sie dennoch in der Partei und der Regierung Karriere machte, verdankt sie der Gunst des Augenblicks und der „Quote“, eine ostdeutsche Politikerin ins Kabinett zu berufen. Merkel avancierte zur Frauen-, später zur Umweltministerin. Zuweilen, gestand sie, habe sie im Zuge politischer Intrigen auch Tränen vergossen.

So abgehärtet manövrierte sie all ihre Konkurrenten in der Union aus und wehrte jeden SPD-Herausforderer ab. Sie brachte die CDU auf Kurs, verordnete ihr eine Modernisierung – bis hin zur viel kritisierten Flüchtlingspolitik. Nach internen Turbulenzen steht die Kanzlerin im Wahljahr – nicht nur in der Union – wieder allein auf weiter Flur. Einen Putsch muss sie nicht befürchten. Obwohl ihr die Fehler Kohls und der verpasste Zeitpunkt seines Abgangs deutlich vor Augen standen, rang sie sich neuerlich zu einer Kandidatur durch. Die Managerin der Macht sieht ihr Lebenswerk noch nicht vollendet.

In Rom, vor einer Audienz bei Papst Franziskus, verbeugte sie sich vor Kohls Vermächtnis: „Ich bin ganz persönlich dankbar, dass es ihn gegeben hat.“ Friktionsfrei war ihre Beziehung nicht, und Kohl höhnte auch über Merkel. Doch ohne den „schwarzen Riesen“ wäre ihr Leben womöglich anders verlaufen. ?

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.06.2017)

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