Der Straßburger Trauerakt für Helmut Kohl zeigte, wie stark in Europa die Sehnsucht nach Staatsmännern ist. Gefährten von Bill Clinton bis Angela Merkel würdigten Kohls Werk, einzig Emmanuel Macron wandte sich Europas Zukunft zu.
Am Ende war Helmut Kohl auch für das Europaparlament zu groß. Während die letzten Takte aus Beethovens siebenter Symphonie verklangen, nahmen die acht Soldaten des Deutschen Wachbataillons der Bundeswehr den Sarg mit den sterblichen Überresten des Altkanzlers von der Schulter; anders hätten sie ihn nicht durch die niedrige Ausgangstür im Plenarsaal des Europaparlaments in Straßburg gebracht.
„Er hat den Mantel Gottes, der für einen kurzen Augenblick durch die Geschichte wehte, zu greifen verstanden“ sagte Jean-Claude Juncker, Präsident der Europäischen Kommission, über einen Mann, den man mit Recht als seinen Mentor auf dem europäischen Parkett bezeichnen kann. Der Spruch stammt ursprünglich von Reichskanzler Bismarck, der promovierte Historiker Kohl hatte ihn gerne und oft zitiert. Diese europäische Ehrenzeremonie für den „Kanzler der deutschen Einheit“, die erste ihrer Art, rief nachdrücklich ins Gedächtnis, welche enormen Verdienste dieser Mann, der seit einigen Jahren krankheitsbedingt fast gänzlich aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden war, sich um Europas friedvolle Einigung gemacht hatte.
Das ließ sich am Samstag in Straßburg auch an der Tatsache ablesen, dass der frühere spanische Ministerpräsident Felipe González eine der Reden hielt. Der Sozialist González und der Konservative Kohl: das war eine jener erstaunlichen Männerfreundschaften, welche sich in Europa über die parteipolitischen Grenzen hinweg bilden können, wenn die handelnden Akteure lange genug im Amt sind, um festzustellen, dass sie mehr eint, als sie trennt. Der Deutsche und der Spanier waren beide im Jahr 1982 an die Macht gekommen, und rasch hatte Kohl erkannt, dass die Demokratisierung des jahrzehntelang faschistisch geführten Spaniens eine europäische Schicksalsaufgabe ist. Er macht sich für den spanischen Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft vier Jahre später stark, und auf diese Zeit geht jene Prämisse Kohls zurück, dass Deutschland im Sinne der europäischen Einigung notfalls tief in die Tasche greifen müsse. „Er wusste, dass der Euro ihn die Kanzlerschaft kosten könnte“, brachte González den politischen Mut Kohls auf den Punkt. Im Gegenzug war González lange Zeit der einzige Regierungschef in der damaligen EG, der vorbehaltlos die deutsche Wiedervereinigung unterstützte. Das vergaß ihm Kohl, dieser Mann mit dem Elefantengedächtnis, nie.
Mit Clinton in Milwaukee. Es war eine merkwürdige Atmosphäre im Straßburger Plenarsaal. Das Bestreben, hier nicht nur einem großen Europäer die letzte Ehre zu erweisen, sondern der an greifbaren Symbolen armen Union ein emotional zugängliches Zeremoniell zu schaffen, war mit Händen greifbar. Unten, in der Mitte, der mit der Europafahne verhüllte Sarg Kohls. Vor ihm, im Halbkreis der Abgeordnetensitze, aktive und ehemalige Staats- und Regierungschefs, Minister, ausgewählte Europaabgeordnete und Mitglieder des Bundestages. Gewissermaßen war das ein würdevoller Staatsakt, wenn man davon absieht, dass die Union kein Staat ist und der Plenarsaal den Charme einer Waschmaschinentrommel versprüht.
An den Rednern lag es nicht, dass sich dieser Gedenkakt bisweilen ein wenig steril anfühlte. „Ich habe ihn geliebt“, hob der amerikanische Altpräsident Bill Clinton in der Erinnerung an Kohl an. „Hillary sagte, dass ich ihn so sehr liebte, weil er der einzige Mann mit einem noch größeren Appetit war als ich.“ Amerikaner dürfen das, am Sarg alter Freunde den einen oder anderen Scherz loslassen, zumal dann, wenn sie so lässig die richtigen Anekdoten aus dem Arm schütteln wie Clinton: Etwa jene, als er Kohl bei einem von dessen Staatsbesuchen in den USA nach Milwaukee mitnahm, wo Kohl in einer deutschen Schule mit afroamerikanischen Kindern auf Deutsch parlierte. „Es gibt in der Politik keine dauerhaften Siege oder Niederlagen“, sagte Clinton. „Weil er die richtigen Fragen auf die richtigen Antworten gab, sind wir heute hier.“ Und dann brach ihm kurz die Stimme: „Schlaf gut, mein Freund. Deine wichtigste Lehre war, dass das, was am meisten zählt, das ist, was wir unseren Kindern hinterlassen.“
An dieser Stelle hätte der Trauerakt enden können, wäre dies ein gewöhnlicher Abschied im privaten Rahmen gewesen. Doch dies war einer politisch besonderer Symbolwirkung, und insofern war es bemerkenswert, dass nur einer der Redner aus der Befassung mit Kohls Lebenswerk einen Appell an Europas Hier und Jetzt formulierte. War es verwunderlich, dass dies der jüngste am Podium tat, Emmanuel Macron, der neue Präsident Frankreichs, der Kohl im Gegensatz zu allen anderen nie getroffen hatte?
„Ich möchte, dass sein Erbe nicht bloß eine politische Bilanz bleibt. Er war für Frankreich ein Freund. Er zog die Brücken den Grenzen und Mauern vor“, hob Macron an. „Jenen, die heute sagen, dass die Europäische Union und ihre Institutionen eitle Gebilde ohne Seele sind, möchte ich entgegen: Weil sie die Flamme haben erlöschen lassen, in der sie geschmiedet wurden. Welches Gebäude verliert nicht seinen Zweck und selbst seine Schönheit, wenn es nicht bewohnt wird? Das ist die Lehre Helmut Kohls für Frankreich und alle Europäer: dass der Pragmatismus, der Realitätssinn, die politische Geschicklichkeit enorm nützlich sind – aber sie erbauen nichts. Es sind die Ideale, die einem Unterfangen einen Leib verleihen und es dauerhaft machen.“
Gemeinsam mit Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel sei er entschlossen, eine europäische Vision dieser Fasson voranzutreiben. „Der hat's drauf, der Junge“, zollt ein Bundeswehroffizier auf der Tribüne neben dem Korrespondenten der „Presse am Sonntag“ Macron ehrlichen Respekt.
Balanceakt für Merkel. Die Kanzlerin hielt die Schlussrede, und es war ihr anzumerken, wie penibel die Situation für sie war. Neben dem Sarg ihres politischen Ziehvaters, Auge in Auge mit dessen Witwe, die es Merkel nie verziehen hat, Kohl im Zuge der CDU-Parteispendenaffäre mittels eines offenen Briefes in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ zum Rücktritt gezwungen zu haben: Merkel war angespannt, ihre Rede blieb in der allgemeinen Würdigung des Vergangenen und der subtilen Umschiffung des Konflikts zwischen ihr und Kohl zurück. „Jetzt ist es an uns, Ihr Vermächtnis zu bewahren“, schloss sie, an Kohls Sarg gerichtet.
Was das konkret heißen will, wird sich nach der Bundestagswahl zeigen. An diesem Samstag in Straßburg war jedenfalls klar zu erkennen, wie groß in Europa die Sehnsucht nach Staatsmännern mit Profil ist. Die Generation jener, die Europa aufbauten, tritt immer schneller ab; der einstige Kommissionspräsident Jacques Delors und die ehemaligen Präsidenten Valéry Giscard d'Estaing und Jacques Chirac, enge Weggefährten Kohls, sind bereits so gebrechlich, dass sie der Einladung nicht folgen konnten. Helmut Schmidt, Václav Havel, Władysław Bartoszewski: Sie sind bereits dahin. „Ja, Helmut war ein deutscher und ein europäischer Patriot. Für ihn war Patriotismus nie ein Patriotismus gegen andere, sondern ein gelebter Patriotismus mit anderen“, mahnte Juncker. Und er fügte hinzu: „Versprich mir, dass Du im Himmel nicht sofort einen neuen CDU-Ortsverein gründest. Du hast genug getan für Deine Partei, für Dein Land, für unser gemeinsames Europa.“
Gäste
Anwesend waren die jeweiligen Staats- oder Regierungschefs aller Mitglieder der EU; Österreich wurde durch Bundespräsident Alexander Van der Bellen sowie Bundeskanzler Christian Kern vertreten, die ÖVP schickte den Europaabgeordneten Othmar Karas, zudem war Altkanzler Wolfgang Schüssel da.
Die Reden hielten die Präsidenten des Europaparlaments, der Kommission und des Europäischen Rates Antonio Tajani, Jean-Claude Juncker und Donald Tusk sowie der ehemalige spanische Ministerpräsident Felipe González, US-Altpräsident Bill Clinton, der russische Ministerpräsident Dimitri Medwedjew, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sowie die deutsche Kanzlerin Angela Merkel.
Kohls Grab ist in Speyer. Auf dem dortigen Domherrenfriedhof wurde er am Samstag nach einem Trauergottesdienst beigesetzt.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.07.2017)