Die Rückkehr der Flüchtlingskrise im deutschen Wahlkampf

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Die Asylpolitik spielte bisher eine Nebenrolle. Das ändert sich nun schlagartig. Die SPD will Auffanglager in Libyen.

Berlin. Sebastian Kurz redet an diesem Februartag wieder einmal über Auffanglager in Libyen. Dem deutschen Gast missfällt das. „Ich rate dazu, nicht eine Welt zu malen, die nicht existiert“, belehrt SPD-Außenminister Sigmar Gabriel den jungen ÖVP-Amtskollegen. Übersetzt: Auffanglager in Libyen sind populistische Träumerei, weil es dort keinen Staat gibt, nur Bürgerkrieg. SPD-Chef Martin Schulz teilt Gabriels Skepsis. Ein Zwischenruf des SPD-Fraktionschefs, Thomas Oppermann, es doch mit Auffanglagern in Nordafrika zu versuchen, verhallt.

Rund fünf Monate später ist die SPD in Umfragen auf 23, 24 Prozent abgestürzt. Ihre Themen zünden nicht – und Martin Schulz entscheidet sich, ein hohes Risiko einzugehen. Er holt das Flüchtlingsthema in den Wahlkampf, das als Achillesferse der in Umfragen enteilten Kanzlerin Angela Merkel (CDU) gilt. Der jüngste Vorstoß kommt von Niedersachsens SPD-Innenminister, Boris Pistorius. Er will nun auch Auffanglager – in Libyen. Es sei zum Handeln zu spät, wenn die Flüchtlinge schon in Italien seien, warnte er in der „Süddeutschen Zeitung“ (Dienstagsausgabe).

„Wir füttern die Schlepper“, erklärte Pistorius mit Blick auf das Mittelmeer. Also Lager in Libyen, die entweder EU oder UN betreiben soll. Mögliche Bedenken der Libyer will der SPD-Landesminister mit Geldzahlungen beseitigen, Asylsuchende nach einer Vorprüfung in Nordafrika auf Europa aufteilen.

Pistorius fällt im SPD-Wahlkampf eine Schlüsselrolle zu. Der „rote Sheriff“ aus Niedersachsen soll den Genossen auf dem Feld der inneren Sicherheit Profil geben – ein zentrales Thema dieser Wahl, aber auch ein schwieriges Terrain für die SPD. Die Wähler trauen ihr hier deutlich weniger zu als der Union. Die G20-Krawalle im rot-grünen Hamburg halfen wohl auch nicht.

Lange machten die Parteien in diesem Wahlkampf einen Bogen um das Asylthema. Erstens gab es keine alarmierenden Bilder an den Grenzen mehr. Zweitens existierte die Ansicht, dass das Thema kaum jemandem nutze – außer der AfD, die sich seit Monaten mit internen Querelen selbst demontiert. Als Schulz vor eineinhalb Wochen öffentlich das Flüchtlingsthema entdeckte, gratulierte just AfD-Kandidat Alexander Gauland: „Da hat Martin Schulz ausnahmsweise einmal recht.“

Streit um Abschiebungen

Für die SPD ist es ein Balanceakt. Der kleine Koalitionspartner hat in der Flüchtlingskrise fast alles mitgetragen bis hin zur Losung „Wir schaffen das“, die Gabriel mehrfach vortrug. Wenn die SPD also auf Merkels Asylpolitik zielt, läuft sie immer Gefahr, sich selbst zu treffen. Die SPD-Kompromissformel lautet nun: Die Grenzöffnung 2015 war aus humanitären Gründen richtig – aber Merkel hätte sich mit den europäischen Partnern absprechen müssen. Zweitens sei es „zynisch“, das Thema im Wahlkampf zu ignorieren, so Schulz in Richtung Union. Der SPD-Chef gibt sich wegen der Lage in Italien alarmiert: „Wenn wir jetzt nicht handeln, droht sich die Situation zu wiederholen.“ In Deutschland gab es im ersten Halbjahr 90.400 Asylerstanträge. 2016 waren es 722.370.

Schulz' Verstoß bekommt Aufmerksamkeit. Merkel urlaubt ja, die Bühne ist frei. Er reist nach Italien, wo der SPD-Chef europäische Solidarität mit dem Ankunftsland einmahnt. Nun grätscht Merkel dazwischen. In einem Anruf signalisiert sie Italiens Premier Hilfe. Und Frankreich kündigt Hotspots in Libyen an. Die Bilder von Schulz im Hafen von Catania, Sizilien, gehen unter.

Dann geschieht der Anschlag in Hamburg. Wieder ist der Täter ausreisepflichtig. Die Debatte kreist seither um die Zahl 220.000. So viele Menschen sind in Deutschland ausreisepflichtig, aber zumeist „geduldet“. Das kann humanitäre Gründe haben – oder es fehlen schlicht Passersatzpapiere, so wie beim Hamburg-Attentäter. Die Parteien überbieten sich seither mit Vorschlägen, wie schneller abgeschoben werden könne. Der Boulevard empört sich über die Zustände. „Die Abschiebe-Lüge“ steht gestern in großen Lettern auf der Titelseite der „Bild“-Zeitung. Grund: Die Zahl der Rückführungen gehe 2017 zurück, obwohl Merkel hier einen „nationalen Kraftakt“ versprach. Die Asylpolitik ist zurück im Wahlkampf. [ AFP ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.08.2017)

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