Wie Nordkorea in den Krieg schlittern kann

Nach Feinden Ausschau halten: Nordkoreas Alleinherrscher Kim Jong-un forciert die Entwicklung von Atomwaffen und droht den USA mit einem Raketenangriff.
Nach Feinden Ausschau halten: Nordkoreas Alleinherrscher Kim Jong-un forciert die Entwicklung von Atomwaffen und droht den USA mit einem Raketenangriff.(c) REUTERS (KCNA)
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Die Gefahr eines Atomwaffeneinsatzes bleibt vorerst gering – viel gefährlicher ist Kim Jong-uns konventionelles Arsenal.

Washington/Seoul/Pjöngjang. „Wenn Gott mit uns ist, wer kann dann gegen uns sein?“ Dieser alte Wahlspruch des polnisch-litauischen Königreichs taucht im neuen Gewand im Konflikt USA–Nordkorea wieder auf – und er macht klar, wie weit die verbale Eskalation fortgeschritten ist. Denn nach Ansicht von Robert Jeffress, seines Zeichens Chefpastor der texanischen First Baptist Church, Autor des Bestsellers „Countdown to Apocalypse“ und Vertrauter von Donald Trump, hat Gott höchstselbst dem US-Präsidenten die Befugnis erteilt, Kim Jong-un „aus dem Spiel zu nehmen“. Zuvor hatte Trump dem Alleinherrscher Nordkoreas mit „Feuer, Wut und Macht“ gedroht, sollte Kim die Entwicklung von Atomwaffen vorantreiben – was eine umgehende Gegendrohung seitens der nordkoreanischen Armee zur Folge hatte: Sollten die USA nicht von ihrem Konfrontationskurs abweichen, sei man zu einem Raketenangriff auf die US-Pazifikinsel Guam bereit.

Bis dato waren so gut wie alle Experten davon überzeugt, dass Kim einen Überraschungsangriff auf die USA nicht in Betracht zieht, weil er sich damit zum Hauptziel des zu erwartenden massiven US-Vergeltungsschlags machen würde. Doch mit der Dauer der Verbalgefechte steigt die Gefahr einer fatalen Fehlkalkulation, die eine Neuauflage des seit dem Waffenstillstand von 1953 eingefrorenen Korea-Konflikts zur Folge hätte.

Logik des Präventivschlags

Ein potenzieller Brandbeschleuniger trägt den Namen OPLAN 5015. Dabei handelt es sich um den Einsatzplan der US-amerikanischen und südkoreanischen Streitkräfte im Fall einer neuen bewaffneten Auseinandersetzung mit Nordkorea. Im Gegensatz zu früheren Strategien, die von einem groß angelegten Landkrieg ausgegangen waren, setzt der seit 2015 entwickelte Schlachtplan auf Präzisionsschläge gegen Nordkoreas Raketen, Chemie- und Atomwaffen – sowie auf die rasche Ausschaltung der nordkoreanischen Führungskader. Die Krux: Um möglichst viele Ziele zu treffen, müssen die USA und ihre Partner gemäß OPLAN 5015 präventiv zuschlagen – also noch bevor Diktator Kim die Gelegenheit hat, sein Arsenal einzusetzen bzw. die Verstecke zu wechseln.

Auch das Regime in Pjöngjang folgt derselben Logik. Nach Ansicht des US-Militärexperten Jeffrey Lewis erwägt die nordkoreanische Armee ebenfalls einen Präventivschlag (und zwar mit Atomwaffen), um dem Angriff der USA zuvorzukommen – in der Hoffnung, Washington würde nach einem Schlag gegen US-Stützpunkte in Südkorea und Japan an den Verhandlungstisch zurückkehren, um sich mit Nordkorea zu arrangieren. Je lauter das Säbelrasseln, desto größer laut Lewis die Gefahr, dass einer der Kontrahenten seinem Gegner zuvorkommen will und zum Erstschlag ansetzt – mit verheerenden Folgen für die koreanische Halbinsel.

Die ersten Kriegsopfer wären in Südkoreas Hauptstadt, Seoul, zu beklagen, die lediglich 50 Kilometer von der Grenze zu Nordkorea entfernt liegt. Die Nordkoreaner haben entlang der demilitarisierten Zone bis zu 15.000 Geschütze und Raketenwerfer positioniert, die zum Teil in der Lage sind, die Zehn-Millionen-Metropole zu treffen. Gemäß einer Studie der US-Denkfabrik Nautilus Institute aus dem Jahr 2012 würde allein die erste Salve der nordkoreanischen Artillerie 30.000 zivile Todesopfer in Seoul fordern. Da ein Teil der Kanonen in Kavernen versteckt ist, wären die USA und Südkorea laut Nautilus nicht in der Lage, den Gegner rasch genug auszuschalten, um die Verluste gering zu halten. Die einzige Hoffnung für die Bewohner Seouls wären jene 3300 Luftschutzräume, die Südkoreas Regierung in der Hauptstadt anlegen ließ. Trotzdem gehen manche Schätzungen von einem mehrtägigen Artilleriegefecht mit bis zu 300.000 Todesopfern in Seoul aus – vor allem dann, wenn Nordkorea die Metropole nicht nur konventionell, sondern auch mit Chemiewaffen beschießen sollte.

Im Gegensatz zum konventionellen Arsenal und Giftgas ist die Gefahr, die von Nordkoreas Atombomben ausgeht, derzeit (noch) gering – und zwar aus mindestens drei Gründen. Erstens: Das Regime in Pjöngjang scheint zwar in der Lage zu sein, atomare Sprengköpfe auf Raketen zu schrauben und abzufeuern – doch die Technologie, die die Kernwaffen beim Wiedereintritt in die Atmosphäre vor Hitze und Zerfall schützt, dürften die Nordkoreaner noch nicht gemeistert haben. Zweitens: Ein Teil des nordkoreanischen Raketenarsenals besteht aus Projektilen, die Flüssigtreibstoff verwenden und vor dem Abfeuern aufwendig betankt werden müssen – was den Amerikanern dank ihrer Luftüberwachung die Möglichkeit gibt, die Raketen noch vor dem Start zu zerstören. Und drittens gibt es mit der in Japan und Südkorea installierten US-Raketenabwehr THAAD ein System, das (zumindest theoretisch) in der Lage sein sollte, einen Teil der herankommenden Lenkwaffen im Flug zu zerstören.

Wie verhält sich China?

Die große Unbekannte in der Schreckensgleichung ist China. Die Volksrepublik ist zwar mit Nordkorea verbündet, betrachtet aber die Eskapaden ihres Nachbarn mit immer größerem Missfallen. Bei der jüngsten Verschärfung der Wirtschaftssanktionen gegen Nordkorea stimmten die Chinesen im UN-Sicherheitsrat den Strafmaßnahmen zu. Und seit wenigen Tagen veranstaltet die chinesische Armee ein Manöver vor der koreanischen Halbinsel, bei dem unter anderem Angriffe auf die Küste geübt werden – was die Vermutung nahelegt, die Volksbefreiungsarmee bereite sich im Fall des Falles auf eine Invasion Nordkoreas vor, um das Atomwaffenarsenal unter ihre Kontrolle zu bringen und eine Wiedervereinigung mit Südkorea zu verhindern.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.08.2017)

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