Wo Merkel im Pfeifkonzert untergeht

Im ostdeutschen Annaberg musste Bundeskanzlerin Angela Merkel gegen einen wütenden Mob anreden.
Im ostdeutschen Annaberg musste Bundeskanzlerin Angela Merkel gegen einen wütenden Mob anreden.(c) imago/Uwe Meinhold
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Die Kanzlerin wirbt um eine vierte Amtszeit. Ihre Devise: „Weiter so.“ Bei einem Wahlkampfauftritt im Erzgebirge schlägt ihr Hass entgegen. Die AfD macht mobil: „Hau ab.“

Annaberg. Im Erzgebirge, dem hintersten, dem sagenumwobenen Winkel Sachsens dicht an der tschechischen Grenze, wo man viel auf Martin Luther hält und auf Adam Riese, den Altmeister der Mathematik, künden Plakate vom hohen Besuch aus Berlin: „Die Kanzlerin kommt.“ Im trichterförmig zusammenlaufenden Marktplatz von Annaberg-Buchholz, unterhalb der mächtigen Annenkirche, läuft am Spätnachmittag die halbe Stadt zusammen – fast ein wenig pflichtschuldig, wie zur Bürgersprechstunde mit der Chefin der Deutschland AG oder wie einst womöglich zum Kreisvorsitzenden der Arbeiter- und Bauernpartei der DDR, als das Erzgebirge als erzkonservatives Widerstandsnest galt. „Wir Erzgebirgler ticken anders“, heißt es heute noch.

Aus den Lautsprechern dröhnt Discosound: „We are Family“. Auf der Bühne prangt der so simple wie schlichte Wahlslogan der CDU: „Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben.“ Ganz vorn, rund um das Denkmal der Barbara Uthmann, die vor mehr als 500 Jahren die Klöppelkunst in die damals florierende Bergwerksstadt gebracht und den Frauen Arbeit gegeben hatte, ist die CDU-Familie zusammengekommen, um Angela Merkel zu huldigen. Die Frau mit der Raute führt das Land seit bald zwölf Jahren mit ruhiger Hand – sehr zur Zufriedenheit einer Mehrheit der Deutschen, wie Umfragen sechs Wochen vor der Bundestagswahl attestieren.

„Uns geht es gut“, resümiert die Inhaberin eines Geschäfts mit dem weithin gerühmten Kunsthandwerk der Region, mit Engeln, Kerzen und Schnitzkunst. Die lokale Wirtschaft brummt wie beinahe im gesamten Land, wie die hiesige „Freie Presse“ vermerkt. Allenthalben hübschen Renovierungsarbeiten das schmucke Stadtbild auf. Die dringend gesuchten Fachkräfte kommen inzwischen aus Tschechien – so wie die Billigdroge Crystal Meth, wie Sozialarbeiterin Jana Kaube moniert.

„Klar, es gibt immer etwas zu meckern, und Merkel hat auch Fehler gemacht – gerade in der Flüchtlingspolitik“, sagt die Geschäftsfrau mit bissigem Unterton. „Aber was wäre die Alternative?“ Für Silvia Lehrer, eine Witwe von kaum 50 Jahren und Mutter von drei Kindern, ist das alles ohnehin nur „Jammern auf hohem Niveau“. „Wir leben hier im Paradies“, betont sie, gemünzt auf die Krisen, Kriege und den Terror in der Welt.

„In welcher Welt lebt die AfD eigentlich?“, fragt sie, als um die Ecke ein roter Trabi tuckert, dekoriert mit dem Logo der Rechtspopulisten und dem Slogan „Wir holen uns unser Land zurück.“

Im Hexenkessel der Wutbürger

„Merkel gibt uns Ruhe und Sicherheit. Wir brauchen nicht noch mehr Bühnenkasperl und männliche Selbstdarsteller“, meint Silvia Lehrer. „Sie ist wie eine Mutter, die ihre Kinder nicht im Stich lässt.“

Auf dem Marktplatz haben sich Regenwolken zusammengebraut. Aus einigen Fenstern lugen dunkelhäutige Asylwerber, vor dem Hotel Wilder Mann - dem ersten Haus am Platz – lehnen der Koch und ein Lehrling an der Mauer. An jeder Ecke sind Polizisten postiert. Auf den Dächern beobachten sie mit Feldstechern den Tumult, als die Kanzlerin im türkisen Blazer unter einem gellenden Pfeifkonzert über den Platz zur Bühne schreitet.

Der Talkessel in Annaberg hat sich mittlerweile in einen Hexenkessel verwandelt, die Manufaktur der Träume – das Regionalmuseum – in einen Albtraum für die Regierungschefin. Statt dem Musical „Bergmannssohn Martin Luther“ und dem Märchenfilmfestival „Fabulix“ kommt heute ein Stück der Wutbürger zur Aufführung: „Merkel muss weg.“

„Nicht meine Kanzlerin“

Die Rede des CDU-Lokalmatadors, des sächsischen Ministerpräsidenten Stanislaw Tillich, geht in Buhrufen unter. Biedere Rentner im grauen Freizeitlook und muskelbepackte Männer, die ihre Tätowierungen wie Trophäen zur Schau stellen, blasen unablässig in ihre Trillerpfeifen – und sie werden sich eine Dreiviertelstunde lang ihre Seele aus dem Leib pusten. Mit geschwollenem Hals und rot angelaufenem Gesicht speien sie derbe Schimpfwörter aus, in ihren Augen funkelt Hass. Sie fallen in Sprechchöre ein: „Haut ab“, „Volksverräter“, „AfD“. Sie recken Transparente und Schilder in die Höhe: „Nicht meine Kanzlerin“, „Stopp für Merkels Immigrations-Sturmtrupp“ oder „Wir machen uns unsere Kinder selbst“. Einer hat das Parteilogo der CDU mit dem Türkei-Emblem gekreuzt: „Wir zerstören Deutschland.“

Merkel, Tillich und Innenminister Thomas de Maizière sind einigermaßen irritiert über den Aufruhr und den unfreundlichen Empfang. Neu ist die Eruption der Wut in Sachsen allerdings keineswegs: Bei der Feier der deutschen Einheit im Vorjahr waren Merkel, Tillich, de Maizière & Co. vor der Dresdner Semperoper mit dem Volkszorn aus der rechten Ecke konfrontiert, und am Höhepunkt der Flüchtlingskrise vor zwei Jahren überschütteten Gegner die Kanzlerin bei einem Besuch in einem Flüchtlingsheim mit Hasstiraden. Sachsen ist die Hochburg des rechten Protests, die Heimat von Pegida und AfD-Chefin Frauke Petry. In Dresden saß schon vor Jahren die NPD-Fraktion im Landtag.

Bererat und Ermias blicken derweil konsterniert um sich. „Das ist Meinungsfreiheit“, sagt der eine. Die beiden Eritreer, 23 und 26 Jahre alt, leben seit zwei Jahren in Annaberg. Sie zeigen sich nicht überrascht von dem Protest der wild gewordenen Männer ringsum. Mit Fremdenfeindlichkeit hätten sie bereits zur Genüge Bekanntschaft gemacht, erzählen sie.

Dabei ist im Wahlkampf die Flüchtlingspolitik bis dato nicht als großes Thema aufgepoppt, und Merkel widmet ihr in ihrer Rede auch nur ein paar Stehsätze. „Das Jahr 2015 war ein schlimmes Jahr. Es darf und soll sich nicht wiederholen.“ Sie berichtet von Lösungsansätzen und von Fortschritten bei der Rückführung der Migranten, sie fordert „Nulltoleranz gegenüber jedweder Kriminalität“.

2015 soll sich nicht wiederholen

Auf die Wutbürger geht die ostdeutsche Regierungschefin nur anfangs kurz ein. „Manche wollen bloß schreien, manche aber etwas voranbringen.“ Im Übrigen könne sie die Lautsprecher bis zum Pegel hochdrehen, um das Pfeifkonzert zu übertönen. Von ihrer nicht einmal halbstündigen Routine-Wahlrede lässt sich Angela Merkel indes nicht abhalten. „Wir leben in einer Welt großer Veränderung“, konstatiert sie. Kein Wort verliert sie jedoch über die wilden Kerle der Weltpolitik, über Trump, Erdoğan, Putin. Geflissentlich ignoriert sie auch die politischen Kontrahenten, allen voran ihren Herausforderer Martin Schulz.

Merkel streift nur das Dieselproblem; sie wirft Fragen auf: „Wie ist das mit der Bildung?“ oder: „Wie sicher ist mein Arbeitsplatz?“ Ihr eigener scheint einstweilen ungefährdet. Sie räsoniert über Deutschland und seinen Markenkern, darüber, was das Land ausmacht. Sie postuliert, sie wolle das Land „zukunftsfit“ machen. Vor allem verspricht sie die Förderung der Familien, die Erhöhung des Kindergelds und des Kinderfreibetrags. „Wir möchten ein Angebot machen für möglichst viele Menschen, wir werden einzelne Gruppen nicht gegeneinander ausspielen. Wir wollen den Deutschen nicht vorschreiben, wie sie zu leben haben. Wir wollen allen eine gute Heimat geben.“ Da spricht die Konsenskanzlerin, deren Devise lautet: „Weiter so.“ Für die Wahl in sechs Wochen bittet die Kanzlerin ohne Brimborium und eitle Posen um Vertrauen: „Ich würde gern weiter für das wunderbare Amt der Bundeskanzlerin bereitstehen.“

Organisierter Mob aus Sachsen

Selbst als am Ende der Kundgebung die Nationalhymne ertönt und die Politikergarde auf der Bühne strammsteht wie die deutsche Nationalelf, will sich der Unmut nicht legen. Polizisten haben sich einige Ruhestörer herausgegriffen, die mit dem Hitler-Gruß provoziert hatten. Die Merkel-Gegner ziehen indessen zufrieden Bilanz. „Wir haben es ihr gezeigt. Es gibt auch eine andere Meinung in diesem Land. Die hat doch wieder nur Lügen erzählt. Sie hat uns Deutsche vergessen“, meint Martin, ein 36-jähriger Monteur. „Wir brauchen eine Opposition, die dagegenhält.“ Für ihn gibt es nur eine Alternative zum sogenannten Altparteien-Kartell: die Alternative für Deutschland, die am 24. September mit dem Einzug in den Bundestag, den sie vor vier Jahren nur knapp verfehlt hat, rechnen kann.

„Das war ein organisierter Mob aus allen Teilen Sachsens, sagt ein altgedienter CDU-Funktionär aus Aue: eine Mischung aus AfD-Parteigängern, Pegida-Anhängern und NPD-Leuten. „Zum Fremdschämen“, erklärt eine CDU-Mitarbeiterin aus Annaberg.

Als die Bühne bereits abgebaut wird, reden sich manche noch die Köpfe heiß, klagen am Würstelstand über Schlägereien mit Flüchtlingen in Chemnitz und Vergewaltigungen „am helllichten Tag“ in Erfurt. Am Stammtisch des Restaurants „Akropolis“ echauffiert sich ein Gast über das „vermerkelte“ Land und den Mangel an Meinungsfreiheit. Die 18-jährige Tochter des griechischstämmigen Wirts fährt ihr in die Parade. Anna Koutsidis, eine Schülerin mit pinkgefärbtem Haar, findet die Kanzlerin „cool und souverän“. Ihr imponiert die Langzeit-Regierungschefin als Symbolfigur in einer Männerdomäne. „Selbst in Neuseeland ist sie hoch angesehen“, fügt eine Annabergerin mit Reiseerfahrungen am anderen Ende der Welt hinzu.

AUF EINEN BLICK

Wahl am 24. September. Laut einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach mit 1400 Befragten kommen CDU/CSU von Kanzlerin Angela Merkel auf 39,5 Prozent, weit abgeschlagen stagnieren die Sozialdemokraten bei 25 Prozent. Der Vierkampf um den dritten Platz bleibt spannend. Derzeit liegen die FDP und die Linken mit neun Prozent gleich auf, die AfD und die Grünen jeweils bei sieben Prozent.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.08.2017)

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