Steinmeier: „Mauern aus Wut, Entfremdung und Enttäuschung“

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.(c) REUTERS
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Der deutsche Bundespräsiden, Frank-Walter Steinmeier, übte sich am Tag der Einheit als Mahner und Gewissen der Nation.

Wien/Mainz. Für die Spitzenrepräsentanten der Republik, für Frank-Walter Steinmeier und Angela Merkel, die vom Dom zum Gutenbergmuseum und danach zum Festakt zur Feier der Deutschen Einheit zur Rheingoldhalle in Mainz schritten, gab es diesmal verhaltenen Beifall. Es war ein auffälliger Kontrast zur Vorjahresfeier, als AfD-Parteigänger Merkel & Co. zwischen Semperoper und Frauenkirche in Dresden mit derben Schimpftiraden überzogen – eine Vorahnung der Protestwelle gegen die Kanzlerin im Wahlkampf in diesem Spätsommer.

Das hat zum einen damit zu tun, dass in Mainz das Krawall-Potenzial längst nicht so groß ist wie in Dresden; und zum anderen damit, dass das Zentrum der rheinland-pfälzischen Hauptstadt, die heuer turnusmäßig an der Reihe war, die Feierlichkeiten auszurichten, seit dem Besuch des US-Präsidenten George W. Bush im Februar 2005 nicht mehr so stark zerniert war. Das niederschmetternde Ergebnis der Bundestagswahl steckte den Politikern der Regierungsparteien indessen noch in den Knochen – am allerwenigsten vielleicht Angela Merkel, die die Verantwortung Deutschlands in Europa einmahnte. „Wir können uns von den Ereignissen in der Welt nicht abkoppeln.“

Schockstarre am Wahlabend

Der Bundespräsident legte seine Rede hingegen grundsätzlicher an: „Ich finde, auch an einem Feiertag dürfen wir nicht so tun, als sei da nichts geschehen: Abhaken und Weiter so.“ Am Tag der Deutschen Einheit zieht das Staatsoberhaupt als Gewissen der Nation die Aufmerksamkeit auf sich. Am Wahlabend sei der langjährige Außenminister in Schockstarre verfallen, als er für seine Gäste Flammkuchen zubereitete und den Wahlausgang im TV verfolgte, hatte ein „Zeit“-Reporter berichtet. Womöglich fühlte er sich an sein eigenes Debakel als Kanzlerkandidat erinnert, als die SPD 2009 auf 23 Prozent abstürzte. Im Wahlkampf hatte Steinmeier dann die „Brandstifter“ kritisiert, ohne die AfD beim Namen zu nennen. Nach der Wahl warnte er vor Antisemitismus und Fremdenhass und wies den Medien eine Mitschuld am Aufstieg der AfD zu. „Die Debatten werden rauer, die politische Kultur wird sich verändern“, betonte er gestern.

Auf der Suche nach seiner Rolle

Der Ex-Außenminister, dem die moralische Autorität und die rhetorische Brillanz seines Vorgängers – des Pastors und Bürgerrechtlers Joachim Gauck – abgeht, suchte lange nach seiner Rolle. Eingangs hatte er den türkischen Präsidenten Erdoğan kritisiert und die Freilassung des Journalisten Deniz Yücels gefordert. Nun hat er seine Rolle gefunden, in einer Arbeitsteilung mit Wolfgang Schäuble, dem künftigen Bundestagspräsidenten und AfD-Dompteur. Seiner Rede stellte Steinmeier ein Zitat aus dem Wolf-Biermann-Lied „Um Deutschland ist mir gar nicht bang“ voran: „Deutschland ist wieder eins/Nur ich bin noch zerrissen.“

Die Strophe setzte das Leitmotiv. Steinmeier sagte, er habe Menschen getroffen, die ihre Orientierungslosigkeit kundgetan hätten: „Ich versteh' mein Land nicht mehr.“ 28 Jahre nach dem Fall der Mauer seien andere Mauern entstanden, „weniger sichtbare, ohne Stacheldraht und Todesstreifen.“

Es seien „Mauern aus Entfremdung, Enttäuschung und Wut“, Mauern zwischen arm und reich, zwischen Land und Stadt, „Mauern rund um die Echokammern im Internet, wo der Ton immer lauter und schriller wird“.

Hinter diesen Mauern manifestiere sich „Misstrauen gegenüber der Demokratie und ihren Repräsentanten“. In der Flüchtlingspolitik gehe es darum, „die Wirklichkeit der Welt und die Möglichkeiten unseres Landes übereinzubringen“. So ähnlich hatte dies Gauck formuliert – treffender hätte er es jetzt auch nicht sagen können.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.10.2017)

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