Spanien: Puigdemont will Unabhängigkeit durchziehen

APA/AFP/GABRIEL BOUYS
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Trotz Massendemonstrationen in Barcelona fordert Kataloniens Regierungschef weiter die Unabhängigkeit. Premier Rajoy will der Region im Ernstfall die Teilautonomie entziehen.

Madrid/Barcelona. Lange hüllte sich Spaniens Regierungschef Mariano Rajoy darüber in Schweigen, wie er die einseitige Abspaltung der spanischen Region Katalonien aufhalten will. Nun, kurz vor der erwarteten Unabhängigkeitserklärung, ließ er die Katze aus dem Sack: Er drohte der katalanischen Separatistenregierung in Barcelona mit der zwangsweisen Entmachtung, wenn sie nicht ihren rechtswidrigen Sezessionskurs aufgebe.

„Wir werden alle Mittel nutzen, die uns die Gesetzgebung gibt“, sagte Rajoy in einem Gespräch mit El País, Spaniens größter Tageszeitung. Zu diesen Mitteln zähle der Artikel 155 der spanischen Verfassung, mit welchem die spanische Zentralregierung in Madrid die Kontrolle über die Region und die Funktionen der katalanischen Regierung übernehmen kann. Auch die Ausrufung des Notstandes, mit dem die Befugnisse von Regierung, Polizei und Militär ausgeweitet werden, sei möglich. Er machte klar, dass die Suspendierung der katalanischen Autonomie und die Einschränkung der Bürgerrechte das letzte Mittel seien, um die illegale Abspaltung Kataloniens zu stoppen. „Es wäre wünschenswert, wenn wir keine drastischen Entscheidungen treffen müssen.“ Aber damit dies nicht geschehe, müsse die katalanische Regionalregierung umschwenken und ihrem gegen die Verfassung verstoßenden Unabhängigkeitsplan abschwören.

Verhandlungen mit der katalanischen Führung lehnt Rajoy unter Hinweis auf das verfassungsfeindliche Vorgehen der Separatisten ab. Zumal die katalanische Regierung nur das Ziel der Unabhängigkeit vor Augen habe und sich „keinen Zentimeter“ bewege. Rajoy warnte, dass bei diesem Konflikt auch „europäische Werte auf dem Spiel stehen“, weil eine einseitige Abspaltung eine Kettenreaktion in anderen Regionen auslösen könne.

Puigdemont wirft Madrid vor, Dialog zu verweigern

Doch bisher hat Kataloniens Ministerpräsident Carles Puigdemont nicht signalisiert, dass er von seinem Versuch, Kataloniens Unabhängigkeit mit der Brechstange durchzusetzen, abrücken will. Am Sonntag bekräftigte er trotz einer Massendemonstration gegen die Abspaltung seine Pläne für die Unabhängigkeit der Region. Gleichzeitig warf er der Regierung in Madrid vor, sich einem Dialog zu verweigern. "Die Tage vergehen, und wenn der spanische Staat nicht auf positive Weise reagiert, werden wir das tun, wozu wir hergekommen sind." 

Puigdemont will am Dienstag um 18 Uhr im katalanischen Parlament erscheinen, um die Abgeordneten „über die aktuelle politische Lage“ zu informieren. Eine Sitzung am Montag war vom spanischen Verfassungsgericht suspendiert worden. Spaniens Regierung befürchtet, dass Puigdemonts Auftritt als Vorwand dazu dienen könnte, um die unilaterale Unabhängigkeitserklärung zu präsentieren und zu verabschieden. Separatistische Parteien erhielten 2015 zwar nur 47,8 Prozent der Wählerstimmen, errangen damit aber knapp die absolute Mehrheit in der katalanischen Kammer.

Puigdemonts Separatistenfront ignorierte bis jetzt alle Verbote des spanischen Verfassungsgerichts. Am 1. Oktober zogen die Separatisten ein illegales Unabhängigkeitsreferendum durch, das spanische Polizisten auch mit einem brutalen Knüppeleinsatz nicht verhindern konnten. Ein Referendum, das von der katalanischen Opposition boykottiert wurde und bei dem nur 43 Prozent der Wahlberechtigten mitmachten. 90 Prozent der Teilnehmer hatten mit Ja gestimmt. Obwohl dieses Ergebnis nicht repräsentativ ist und weder von Spanien noch von der EU anerkannt wird, sieht Puigdemont dies als ausreichendes „demokratisches Mandat“ an, um die Unabhängigkeit durchzusetzen. 

„Kataloniens schweigende Mehrheit“

Am Wochenende gingen die Menschen in vielen Städten Spaniens für die Einheit der Nation auf die Straße. Auf Kundgebungen mit dem Motto „Lasst uns miteinander sprechen“ wurden die spanische wie die katalanische Regierung dazu aufgerufen, per Dialog einen Ausweg zu suchen.

Die größte Demonstration fand am Sonntagmittag in der katalanischen Regionalhauptstadt Barcelona statt. Hinter einem Transparent mit dem Appell „Schluss jetzt, lasst uns zur Besonnenheit zurückkehren!“ zogen Hunderttausende Menschen durch die City und verwandelten die Straßen in ein Meer spanischer Fahnen. Die Demonstranten waren aus dem ganzen Land angereist. Es war der größte prospanische Protestmarsch in der Geschichte Barcelonas, auf deren Straßen bisher vor allem die Unabhängigkeitsbewegung Flagge zeigte. Der Demonstrationszug war von der Plattform Katalanische Zivilgesellschaft organisiert worden und sollte dazu dienen, „der schweigenden Mehrheit“ im gespaltenen Katalonien eine Stimme zu verleihen.

Auch viele Prominente traten auf, darunter der Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa. „Es braucht schon mehr als eine separatistische Konspiration, um die spanische Demokratie zu zerstören“, sagte er auf der Abschlussveranstaltung.

DER BRISANTE ARTIKEL 155

Ganz Spanien wartet angespannt darauf, wie

Regierungschef Mariano Rajoy auf die Unabhängigkeitserklärung Kataloniens reagieren wird. Eine Möglichkeit wäre die Entmachtung der Regionalregierung. Rajoy würde dann die sogenannte „nukleare Option“ in der spanischen Verfassung aktivieren, den Artikel 155. Dort wird auf die Verpflichtung der Regionalregierungen hingewiesen, sich an die Verfassung und das allgemeine Interesse ganz Spaniens zu halten. Tut eine Regionalregierung das nicht, ist die Zentralregierung zu „erforderlichen Maßnahmen“berechtigt, um laut Verfassungstext die autonome Gemeinschaft zur zwingenden Erfüllung dieser

Verpflichtungen anzuhalten. Der Artikel 155 wurde noch nie eingesetzt, Medien spekulieren deshalb seit Wochen, wie „erforderliche Maßnahmen“ zu verstehen sind. Um den Artikel 155 zu aktivieren, braucht Rajoy die absolute Mehrheit im Senat.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.10.2017)

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