Der Premier besuchte erstmals seit Wochen Katalonien und rief Unabhängigkeitsgegner auf, am 21. Dezember zu wählen. In Barcelona demonstrierten Hunderttausende Separatisten.
Barcelona. Spaniens Premier Mariano Rajoy wagte sich erstmals seit Wochen wieder ins „katalanische Minenfeld“. Zum ersten Mal seit der Kontrollübernahme der Zentralregierung in Katalonien reiste er am Sonntag nach Barcelona und nahm dort an einer Wahlveranstaltung teil, bei der die Kandidaten seiner Volkspartei für die katalanischen Neuwahlen am 21. Dezember vorgestellt wurden.
„Katalonien ist Spanien und Spanien ist Katalonien“, erklärte Rajoy unter dem Applaus seiner Parteikollegen. In seiner Rede forderte er die „schweigende Mehrheit“ auf, bei der Wahl ihre Stimme abzugeben – und dabei ihrer Ablehnung einer Abspaltung der Region von Spanien Ausdruck zu verleihen, damit dort wieder Normalität einkehren könne. „Eine Mehrheit der Katalanen ist gegen die Unabhängigkeit, jedoch verschafft sie sich seit Monaten weniger Gehör als die Befürworter der Trennung“, sagte er.
Zudem forderte Rajoy von „allen Unternehmen, die in Katalonien waren oder sind“, nicht zu gehen. Rajoy hatte nach einem Unabhängigkeitsbeschluss der Regionalregierung Ende Oktober erstmals den Artikel 155 der spanischen Verfassung angewandt und die Regionalregierung entmachtet.
„Politische Gefangene“
Am Wochenende zeigte die Unabhängigkeitsbewegung wieder Muskeln: Hunderttausende Menschen demonstrierten am Samstagnachmittag in Barcelona für eine „katalanische Republik“ und forderten die Freilassung von zehn Repräsentanten der Separatismusbewegung, die in Untersuchungshaft sitzen. Die zehn Politiker und Aktivisten werden von Spaniens Nationalem Gerichtshof beschuldigt, auf gesetzeswidrige Weise die Abspaltung Kataloniens von Spanien vorangetrieben zu haben.
„Freiheit für die politischen Gefangenen“, stand auf einem Transparent am Kopf des Protestmarsches, an dem nach Angaben der Stadtpolizei 750.000 Menschen teilnahmen. Die „politischen Gefangenen“ sind acht frühere Mitglieder der abgesetzten katalanischen Regierung, darunter der ehemalige Vize-Ministerpräsident Oriol Junqueras; und die beiden Anführer jener beiden separatistischen Bürgerinitiativen, die zusammen mit der katalanischen Ex-Regierung die treibende Kraft der mutmaßlich illegalen Aktivitäten waren.
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty teilt derweil nicht die Einschätzung der katalanischen Separatistenszene, dass die in einem Madrider Gefängnis Einsitzenden wegen ihrer politischen Anschauungen in Untersuchungshaft geschickt wurden. Den U-Häftlingen, so erklärte die spanische Amnesty-Sektion, „werden Handlungen vorgeworfen, die ein Delikt darstellen können“. Konkret werden die acht Ex-Regierungsmitglieder der Rebellion, Rechtsbeugung und Veruntreuung von Millionengeldern beschuldigt. Den beiden Anführern der Bürgerinitiativen wird das Anzetteln eines Aufruhrs angelastet.
Unterdessen wartet der frühere katalanische Ministerpräsident Carles Puigdemont, der zusammen mit vier weiteren Ex-Ministern nach Brüssel flüchtete, auf eine erste Entscheidung über seine Auslieferung an Spaniens Justiz. Am Freitag muss er vor jenem belgischen Gericht aussagen, das in erster Instanz über den spanischen Auslieferungsantrag befinden wird. Puigdemont und seine vier Getreuen hatten angekündigt, bis zur letzten Instanz eine Auslieferung anfechten zu wollen. Eine endgültige Entscheidung kann sich also monatelang hinziehen.
Puigdemont im Umfragetief
Auf politischer Bühne schwimmen derweil Puigdemont, der von seinem Brüsseler Fluchtort aus für die Katalonien-Wahl am 21. Dezember kandidieren will, die Felle weg. In allen Umfragen kommt seine Partei PDeCat, jahrzehntelang stärkste Bewegung in Katalonien, nur noch auf zehn bis zwölf Prozent der Stimmen. Während Puigdemonts Ex-Vize Oriol Junqueras, der nicht vor der Justiz flüchtete und deswegen nun in U-Haft sitzt, mit seiner Linkspartei ERC 25 bis 30 Prozent erwarten kann. Womit Junqueras sich zum neuen Führer der Bewegung aufschwingen würde.
Ob die drei katalanischen Separatismusparteien es in der Neuwahl am 21. Dezember wieder schaffen werden, die absolute Mehrheit der Mandate zu erobern, ist unklar. Bisher sagen ihnen die Umfragen 45 bis 48 Prozent der Stimmen voraus. (ag, rs)
("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.11.2017)