Der Rücktritt der Premierministerin ist mehr eine Frage von Stunden als von Tagen. Aber schon jetzt geht gar nichts mehr in der Regierung in London.
London. Würde Theresa May heute die Themse zu Fuß überqueren, würden ihre Parteikollegen gemeinsam mit der rechten Boulevard-Presse unisono verkünden: „May kann nicht schwimmen.“ So sehr hat die britische Premierministerin jede Autorität und Unterstützung verloren, dass die Frage nach ihrem Rücktritt die gesamte Politik des Landes lähmt. Im täglichen Medienbriefing antwortete ihr Sprecher gestern, Donnerstag, auf die Frage nach dem Zeitpunkt ihres Abtritts nur mehr gereizt mit den Worten: „Nächste Frage.“
Dabei zeigte sich gestern erneut, dass keine Frage mehr gelöst werden kann, ehe nicht die Führungsfrage gelöst ist. In einer weiteren Demütigung musste May angesichts überwältigenden Widerstands auf die Vorlage ihres EU-Austrittsgesetzes im Unterhaus verzichten. „Wir werden das Parlament nach Ende der Sitzungspause am 4. Juni über die nächsten Schritte informieren“, erklärte die Regierung. Damit scheint es fast ausgeschlossen, dass es noch einmal zu einer Abstimmung über Mays Brexit-Deal kommen wird.
Als ebenso unwahrscheinlich galt es am Donnerstag, dass dann May noch im Amt sein würde. Bereits heute, Freitag, muss sie erneut mit Graham Brady, dem Sprecher der konservativen Hinterbänkler, über ihren Abgang beraten. Eine Ankündigung ist heute ebenso möglich wie auch nach dem erwarteten Debakel der Konservativen in der Europawahl, deren Ergebnis Sonntagabend bekannt wird.
Doch bis zur letzten Sekunde blieben Mays Durchhaltewillen und Starrsinnigkeit nicht zu unterschätzen. Außenminister Jeremy Hunt erklärte: Beim Besuch von US-Präsident Donald Trump von dritten bis fünften Juni in Großbritannien „wird Theresa May weiterhin Premierministerin sein, und das ist auch richtig so“. Hunt ist einer der führenden Nachfolgekandidaten. Während er aber längst mit rührenden Homestorys mit Frau und Küche in Sonntagszeitungen für sich wirbt, setzt er nach außen auf eiserne Loyalität zu der scheidenden Premierministerin.
Das war noch nie eine Stärke von Boris Johnson, dem Vorgänger von Hunt als Außenminister, der in dieser Woche mit einem Vier-Punkte-Programm genau die Kernanliegen der konservativen Basis ansprach. Hauptforderung: Hard Brexit now! Auf der anderen Seite des Spektrums formierten sich bereits gemäßigte Konservative um Innenministerin Amber Rudd als „One Nation Tories“, die unter allen Umständen einen harten Brexit vermeiden wollen.
Ausgerechnet zwischen diesen beiden unvereinbar scheinenden Positionen kündigt sich eine Allianz an. „Es geht nicht um Personen, sondern um die Möglichkeit, Politik zu gestalten“, hieß es aus dem Umfeld von Rudd, um die sich Johnson zuletzt besonders auffällig bemühte. Der Ex-Außenminister ist mit 39 Prozent Zustimmung an der Basis der Tories der überlegene Favorit auf die Nachfolge Mays. Wer auch in Zukunft auf eine Karriere hofft, tut gut daran, sich schon jetzt mit ihm gutzustellen.
Tür mit Sofa verstellt
Ebenfalls ins Rennen will offenbar auch die bisherige Parlamentsministerin Andrea Leadsom gehen. Ihr Rücktrittsschreiben mit den Worten, „Ich habe drei Jahre leidenschaftlich für die Umsetzung des Brexit gekämpft“, wurde allgemein bereits als Auftakt zu ihrer Kampagne verstanden. Das Feld der Hardliner vervollständigt die frühere Arbeitsministerin Esther McVey, während Brexit-Ultra Jacob Rees-Mogg bereits Johnson seine Unterstützung zugesagt hat. Vorerst galt es aber weiterhin, May zu entfernen: „Sie hat die Tür mit dem Sofa verstellt“, schimpfte einer ihrer Vorgänger, Iain Duncan Smith. Durch das Streuen von Gerüchten, worin er einer der Großmeister der politischen Szene Londons ist, lässt es sich nicht allein verrücken.
Wenn die Tories aber wie erwartet bei den Europawahlen, die in Großbritannien schon gestern stattfanden, auf den fünften Platz fallen und ein einstelliges Ergebnis erreichen werden, wird May selbst der Umstand nichts mehr nützen, dass auch der Labour Party eine Riesenschlappe droht. Statt der Themse wird dann für die Konservativen der Rubikon überschritten sein.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.05.2019)