Italien: Wo Flüchtlinge als Chance betrachtet werden

(c) REUTERS (MAX ROSSI)
  • Drucken

Die kleine, einst verwaiste Gemeinde Riace in Kalabrien wurde durch die Ansiedlung von Migranten aus aller Welt wiederbelebt.

Riace. Schlaglöcher säumen die kurvige Straße nach Riace, die sich von der Küste steil nach oben windet. Sieben Kilometer trennen das Ionische Meer von der kleinen Gemeinde, die sich auf den ersten Blick nicht von zahlreichen anderen, völlig aus der Zeit gefallenen Siedlungen in der Provinz Reggio di Calabria im äußersten Süden Italiens unterscheidet. Doch Riace tickt anders als der Rest des Landes, anders als der Rest des Kontinents. Während im fernen Brüssel Mittelmeerländer und nördliche EU-Staaten über eine gerechtere Aufteilung der „boat people“ streiten, die derzeit zu Tausenden an den Küsten von Lampedusa und Sizilien stranden, betrachtet man die Aufnahme von Migranten hier als Chance.

Das früher 3000 Einwohner zählende Dorf wäre heute wohl verwaist, hätte Bürgermeister Domenico Lucano nicht vor vielen Jahren das Projekt „Città Futura“ begründet und seine Heimatgemeinde durch die Ansiedlung von Flüchtlingen wiederbelebt. Derzeit leben etwa 250 Neuankömmlinge aus allen Teilen der Welt in Riace. Lucano hat sie in den verlassenen Wohnhäusern der ehemaligen Dorfbevölkerung untergebracht, von der in den vergangenen 50 Jahren knapp die Hälfte nach Norden ausgewandert ist. Mit Hilfe des Flüchtlingswerks UNHCR wurden die Unterkünfte renoviert; dafür sollen die Migranten sich in das soziale Leben integrieren.

Auch die Einheimischen freuen sich mehrheitlich darüber, dass ihr Dorf zu neuem Leben erwacht ist: Nicht umsonst haben sie den ehemaligen Chemielehrer Lucano 2004 zu ihrem Bürgermeister gewählt. Sein Projekt belebt auch den Tourismus. Überall finden sich kleine Geschäfte, in denen die Migranten ihr Handwerk feilbieten: Webarbeiten, Keramik, Schmuck oder Öl. Eine junge Frau aus Eritrea produziert Schokolade in verschiedenen Sorten, die sie zum Verkauf in altes Zeitungspapier wickelt. Sie ist seit neun Monaten in Riace – mit ihrem Ehemann, wie sie stolz erzählt. Nun ist die 22-Jährige im achten Monat schwanger und froh, ihr Kind in sicherem Umfeld zur Welt zu bringen.

Das Zentrum der Città Futura ist der Palazzo Pinnarò, ein heruntergekommener Palast, wo der Bürgermeister seine Schützlinge empfängt. An der Tür klebt ein Zettel mit der Aufschrift „Bürozeiten. Wir empfangen Gäste: Immer“. Es geht hektisch zu, ständig läutet das Telefon, Menschen gehen ein und aus. Die meisten Migranten würden ein bis zwei Jahre im Dorf bleiben, erzählt Lucano. Wo sie dann hingehen? Er weiß es nicht. Leider gibt es auch in Riace nicht genügend Arbeit für alle, obwohl in den vergangenen Jahren viele Handwerksbetriebe gegründet wurden.

Der Grundstein für die Città Futura wurde schon im Juli 1998 gelegt. Damals strandeten am Küstenabschnitt von Riace Marina über 200 kurdische Flüchtlinge. Für Lucano war es ein Zeichen, weil diese Menschen eine Heimat suchten, wo so viele Menschen ihre Heimat verlassen hatten. Sein Dorf nahm die Flüchtlinge auf – der Rest ist Geschichte.

(K)ein Beispiel für Resteuropa

Doch kann das, was im Mikrokosmos der Città Futura von Riace funktioniert, beispielgebend sein für andere Regionen in Europa? Nur zwei Autostunden entfernt, an der touristischen Nordküste Kalabriens rund um Tropea und das Capo Vaticano, ist man eher skeptisch. Die Hiobsbotschaften über Massenankünfte von afrikanischen Mittelmeerflüchtlingen an Europas Südküsten könnten langfristig dem Fremdenverkehr schaden, fürchtet man hier. „Die Touristen wollen keine Schwarzen in den Gassen sehen“, heißt es hinter vorgehaltener Hand. Die Wut auf Brüssel und die übrigen Mitgliedstaaten ist jedenfalls wie in Rom (siehe nebenstehender Artikel) groß – doch auch die italienische Politik sei Schuld daran, dass so vieles im Argen liege, meint Antonio Lamantea, Direktor der Piccola Università di Tropea. „In Kalabrien gibt es so viel Land, das von Migranten bewirtschaftet werden könnte. Leider fehlt das Geld für die Projekte“, sagt er. Das Beispiel Riace aber zeigt: Oft fehlt einfach nur der Mut.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.05.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

EU-Wahl

"Werden sie frei in andere Länder ziehen lassen"

Italien fühlt sich von den EU-Partnern im Stich gelassen. Die Migrationswelle über das Meer wächst und wächst. Es droht eine humanitäre, finanzielle und politische Eskalation.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.