Experten sind sich uneins darüber, ob sich der Seeweg von Libyen nach Europa schließen lässt.
Wien/Brüssel. Die Flüchtlingskrise im Mittelmeer beschäftigt nicht nur die Staats- und Regierungschefs der EU, sondern auch Experten. Am gestrigen Donnerstag widersprach der Migrationsexperte Mattia Toaldo vom European Council on Foreign Relation (ECFR) einer Einschätzung des österreichischen Generalstabschefs Othmar Commenda, wonach eine Sperre des Mittelmeers militärisch machbar sei. Die Schließung der Mittelmeerroute, die von Libyen nach Italien führt, sei kurzfristig unmöglich, sagte Toaldo im Ö1-„Mittagsjournal“. Der einzige Weg, die Menschen von der gefährlichen Überfahrt nach Europa abzuschrecken, sei, sie so schnell wie möglich in ihre Heimat zurückzuschicken, doch dafür müsse man die Herkunftsländer überzeugen, sie auch anzunehmen.
Vor allem in Italien ist man sich dieser Problematik bewusst. Außenminister Angelino Alfano kündigte gestern vor dem Treffen der Europäischen Volkspartei (EVP) in Brüssel an, einen umfassenden Plan für die Steuerung der Migrationsströme über das Mittelmeer vorlegen zu wollen. So solle die nördliche Grenze von Libyen kontrolliert und Vereinbarungen „mit den afrikanischen Transitländern“ getroffen werden, damit Flüchtlinge gar nicht erst nach Libyen kämen. Auch Manfred Weber, EVP-Fraktionschef im Europaparlament, stößt ins selbe Horn: „Wir bekommen die Migrationsfragen nur in den Griff, wenn wir an der Außengrenze für Ordnung sorgen.“
In Österreich wurde die Debatte über die Mittelmeerflüchtlinge und -migranten von Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) angefacht. Der Spitzenkandidat der Volkspartei hat sich dafür ausgesprochen, den finanziellen Druck auf die afrikanischen Herkunftsländer zu erhöhen, damit sie „ihre Staatsbürger zurücknehmen“, wie Kurz gestern formulierte. Damit gemeint ist die Kürzung von EU-Fördermitteln und Entwicklungshilfegeldern bei fehlender Kooperationsbereitschaft.
Migrationsexperte Toaldo hält derartige Drohungen für kontraproduktiv: Die Bedeutung der Entwicklungshilfe werde überschätzt. (ag./red.)
("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.06.2017)