Direkte Demokratie in der Schweiz birgt einige Fallstricke

APA/KEYSTONE/GIAN EHRENZELLER (GIAN EHRENZELLER)
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Brisante Vorlagen zur Abschaffung der SRG-Gebühren und "Landesrecht vor Völkerrecht" bringen das offizielle Bern ins Schwitzen.

Von der sogenannten "Hornkuh-Initiative" für die Würde der landwirtschaftlichen Nutztiere, über eine gerechtere Besteuerung des Kapitals bis zur Abschaffung der Fernseh- und Rundfunkgebühren und der Aufkündigung internationaler Verträge - die sogenannte "Selbstbestimmungsinitiative" - gibt es fast nichts, worüber die Schweizer nicht abstimmen können.

Während die neue türkis-blaue Bundesregierung gerade erst einige zaghafte Schritte mit hohen Hürden in Richtung verbindlicher Volksbegehren in Aussicht genommen hat, sind diese in der Schweiz seit mehr als hundert Jahren fest im politischen Alltag verankert und haben auch eine starke identitätsstiftende Wirkung. Allerdings birgt dieses populäre Mitbestimmungsrecht des Volkes, das im Großen und Ganzen gut funktioniert, auch gelegentliche Fallstricke: bei etlichen Volksinitiativen droht Kollisionsgefahr mit der Einhaltung von internationalen Staatsverträgen oder Menschenrechtsstandards.

Der Schweizer Menschenfreund und Armenhelfer Heinrich Pestalozzi definierte die direkte Demokratie einmal so: "Wir sind durch Recht und Gesetz miteinander verbunden, unser Staat selber." Die Hürden für die Lancierung einer Volksinitiative sind in der Schweiz extrem niedrig. Innerhalb von 18 Monaten müssen nur 100.000 Unterschriften gesammelt werden, um eine Volksabstimmung über die Initiative zu erzwingen. Mit einem Referendum hingegen kann das Volk verhindern, dass bestimmte Gesetze oder Verfassungsänderungen in Kraft treten. Dieses Recht steht schon 50.000 Bürgern oder den Kantonen zu. Wichtige Staatsverträge und Verfassungsänderungen können überhaupt nur nach einer obligatorischen Volksabstimmung in Kraft treten.

Auch kleine Kantone haben Gewicht

Spektakulärster Fall eines solchen obligatorischen Referendums in den letzten Jahrzehnten war die Ablehnung des Europäischen Wirtschaftsraumes (EWR), die in diesem Dezember genau ein Vierteljahrhundert her ist. Der EWR-Beitritt war vom Volk mit hauchdünner Mehrheit von 50,3 Prozent abgelehnt worden, allerdings war die erforderliche mehrheitliche Zustimmung der Kantone in weiter Ferne. Es waren vor allem die kleinen Bergkantone, die den Ausschlag gaben. Sie haben das gleiche Stimmgewicht wie die urbanen Ballungszentern wie Zürich oder Basel. Das "Nein" war vor allem das Werk der nationalkonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP) und eine Sternstunde für den damals erst aufsteigenden Volkstribun Christoph Blocher. Mit seiner wortgewaltigen Kritik an dem EWR führte er die SVP aus ihrem Mauerblümchen-Dasein heraus und katapultierte sie mit heute fast 30 Prozent Stimmenanteil zur stärksten Partei des Landes hoch.

Die Folgen des EWR-Neins sind noch heute spürbar. In den 1990er Jahren verharrte die Schweiz in einer längeren und tieferen Rezession als ihre Nachbarstaaten, auch wenn Blocher dies nachträglich bestreitet. Für die Schweizer Diplomaten begannen zähe Verhandlungen mit der EU, die erst zehn Jahre später, 2002, in eine Reihe bilateraler Verträge mit Brüssel mündeten. Erst damit konnte die Schweiz sich in der Folge einen zumindest teilweisen Zugang zum großen EU-Binnenmarkt sichern. Auch musste das offizielle Bern seine EU-Beitrittsambitionen auf lange Sicht begraben.

Aber die SVP, die damals lautstark für den bilateralen Weg als besten Schutz für die Unabhängigkeit des Landes eingetreten war, versucht inzwischen auch bilaterale Abkommen wie die Personenfreizügigkeit zu Fall zu bringen. Da die Personenfreizügigkeit zu den Grundpfeilern des EU-Binnenmarktes gehört, könnte Brüssel das nicht hinnehmen und hat vorsorglich eine "Guillotine-Klausel" eingebaut, mit der ein Großteil der bilateralen Verträge hinfällig würde.

Am 4. März wird abgestimmt

Die SVP musste Niederlagen einstecken, denn zwei Versuche, die Freizügigkeit abzuschaffen, scheiterten. Ihre "Massenzuwanderungsinitiative", mit der Kontingente für EU-Bürger eingeführt werden sollten, setzten Parlament und Regierung "EU-kompatibel" um, indem lediglich ein leichter Inländer-Vorrang für Arbeitslose bei der Stellensuche eingeführt wurde. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker fand im Dezember bei einem Besuch in Bern denn auch lobende Worte für die gefundene Lösung, mit der die "Eiszeit" zwischen Brüssel und Bern beendet wurde.

Mit der "No Billag Initiative" zur Abschaffung der obligatorischen Fernseh- und Rundfunkgebühren und der "Selbstbestimmungsinitiative ("Landesrecht vor Völkerrecht") haben die Rechtsparteien aber noch einige Giftpfeiler im Köcher. Die No Billag Initiative soll bereits am 4. März des kommenden Jahres vors Volk. Die bisherigen Meinungsumfragen ergeben 56,6 Prozent Befürworter, die dem staatlichen Medienkonzern, der SRG den Stecker ziehen möchten, und nur 38 Prozent Gegner.

Auf die Argumente der Gegner, dass die SRG damit ihren öffentlichen Auftrag nicht mehr erfüllen könne, wie etwa spezielle Sendungen für die Sprachminderheiten im Land zu produzieren, und ohne die nötigen Finanzmittel Qualitätseinbußen zu erwarten seien, wurde bisher wenig eingegangen. Auch der Hinweis, dass Pay-TV, vor allem für Sportübertragungen, die Zuschauer teurer zu stehen kommen könnte als die derzeitige Jahresgebühr von 451 Franken (384,32 Euro) zog nicht. Ebenso wenig die Ankündigung der Berner Bundesregierung, die Gebühren auf 365 Franken zu senken. Auch die Schreckensszenarien von Massenentlassungen bei den Sendern, die derzeit 6.000 Mitarbeiter beschäftigen, oder gar dem Untergang der altehrwürdigen Institution verhallten bisher. Für die rechtsbürgerliche "Neue Zürcher Zeitung" (NZZ) fristet die SRG angesichts der vielen neuen Internetmedien heute ohnehin nur noch ein "Dinosaurier"-Dasein. Laut SVP ist die SRG nicht unabhängig, sondern das "Sprachrohr der Staatsmacht".

Wesentlich weiter reichende internationale Folgen drohen bei einer Annahme der "Selbstbestimmungsinitiative", hinter der ebenfalls die SVP steckt, sekundiert von kleineren rechtsextremen Parteien. Sie hat bereits zahlreiche NGOs auf den Plan gerufen, die vor den Gefahren warnen. Mit der Volksinitiative, die im Herbst oder Winter vor das Stimmvolk kommen dürfte, soll der Schweizer Bundesverfassung Vorrang vor dem Völkerrecht eingeräumt werden. Einziger Vorbehalt ist zwingendes Völkerrecht, wie etwa ein Verbot der Folter, der Sklaverei, des Völkermordes oder der Rückschaffung von Flüchtlingen aus Krisengebieten. In allen anderen Fällen soll die Berner Bundesregierung bei Widersprüchen zur Schweizer Verfassung eine Anpassung des Völkerrechts aushandeln oder, falls nicht möglich, den entsprechenden Staatsvertrag kündigen.

Brisantes Thema Ausweisung

Damit ziele die Vorlage direkt auf eine Kündigung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ab, warnen Schweizer Völkerrechtler wie Doris Angst. Anstoß für die brisante Vorlage war die im Jahr 2010 angenommene "Ausschaffungsinitiative", die bei einer Umsetzung gegen die EMRK verstoßen würde. Sie sieht eine "automatische Ausweisung" ausländischer Straftäter (bei Mord, Einbrüchen aber auch bei Sozialmissbrauch) ohne Einzelfallprüfung durch einen Richter vor. Weil sie wegen ihrer Völkerrechtswidrigkeit nicht umgesetzt wurde, unternahm die SVP im Vorjahr einen weiteren Versuch, die automatische Ausweisung von kriminellen Ausländern in Verfassungsrang zu heben. Allerdings fiel die "Durchsetzungsinitiative" im Februar 2016 bei den Stimmbürgern überraschend durch.

Doris Angst verweist darauf, dass dank der EMRK etwa das Frauenstimmrecht allgemein eingeführt wurde. Gerügt worden sei die Schweiz seit ihrem Beitritt 1974 dagegen nur in 1,5 Prozent aller sie betreffenden Fälle. Auch die Berner Bundesregierung hat die "Selbstbestimmungsinitiative" zur Ablehnung empfohlen. Denn mit der neuen Bestimmung Landesrecht vor Völkerrecht könnte die Schweiz immer weniger internationale Verträge einhalten und wäre damit zur Kündigung gezwungen. Abgesehen von der EMRK, aus der die Schweiz bei Nichteinhaltung der Bestimmungen längerfristig austreten müsste, und sich damit innerhalb Europas in der Gesellschaft Weißrusslands befände, gerieten damit auch die bilateralen Verträge mit der EU in Gefahr, wird gewarnt. Bei einer Annahme befürchtet denn auch die Caritas einen "fundamentalen Angriff auf das Völkerrecht" und ein "außenpolitisches Schlamassel". Dies auch, weil die Schweiz keine Verfassungsgerichtsbarkeit kennt, die Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüft. Daher sei die EMRK besonders wichtig für das Land. Der Abstimmungskampf, für den Befürworter und Gegner bereits mobilisieren, dürfte jedenfalls mit starken Bandagen geführt werden.

(APA)

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