Asyl: Dominoeffekt an Europas Grenzen

Kommt es zu Transitzonen, will Österreich die Grenze zu Italien und Slowenien verstärkt kontrollieren (hier ein Routine-Check bei Gries am Brenner im Juni).
Kommt es zu Transitzonen, will Österreich die Grenze zu Italien und Slowenien verstärkt kontrollieren (hier ein Routine-Check bei Gries am Brenner im Juni).(c) REUTERS (MICHAELA REHLE)
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Nach Deutschland plant auch Österreich Transitzonen – an der Grenze zu Slowenien und Italien. Rom droht mit der Schließung des Brenners.

Wien/Berlin. Noch hat die SPD den Plänen von CDU und CSU nicht zugestimmt. Aber sollte sich die deutsche Regierung entschließen, Transitzonen an der Grenze zu Österreich einzurichten, käme es zu einem Dominoeffekt in Europa: Österreich will umgehend nachziehen und die Grenze zu Italien und Slowenien verstärkt kontrollieren. Die Regierung in Rom würde dann ihrerseits die Grenze schließen. Und auch Slowenien müsste reagieren. Die Dynamik könnte sich bis an die europäischen Außengrenzen fortsetzen – wie im Jahr 2016, als die Balkanroute geschlossen wurde. Doch der Reihe nach.

1 Was plant die deutsche Bundesregierung an der bayrischen Grenze zu Österreich?

Im grenznahen Raum könnten bald sogenannte Transitzentren errichtet werden. Sie sollen praktisch auf deutschem Gebiet stehen, juristisch aber nicht. Das ist für das weitere Prozedere entscheidend. Flüchtlinge werden in diesen Einrichtungen überprüft und sollen ihre Fingerabdrücke abgeben. Die Daten werden in die sogenannte Eurodac-Datenbank eingegeben. Dadurch wird festgestellt, ob die Person schon einmal in einem anderen EU-Land registriert wurde.

Um große Menschenmengen geht es dabei nicht: Zwischen Jänner und Mai dieses Jahres sind insgesamt 4600 Personen laut Bundespolizei illegal von Österreich nach Deutschland eingereist.

2 Was passiert mit Flüchtlingen, die in diese Transitzentren gebracht werden?

Es gibt mehrere Möglichkeiten. Erstens: Gibt ein Flüchtling zum ersten Mal seine Fingerabdrücke ab, darf er nach Deutschland einreisen und Asyl beantragen. Zweitens: Wurde er in einem anderen Land registriert, mit dem Deutschland einen Vertrag hat, wird er nach einem Schnellverfahren dorthin gebracht. Aus Griechenland, Spanien und Frankreich hat Kanzlerin Angela Merkel eine Zusage. Wie viele andere EU-Partner kompromissbereit sind, ist offen. Merkel hatte zuletzt auch Abkommen mit Ungarn und Tschechien in Aussicht gestellt. Dort widersprach man ihr jedoch. Ein wichtiger Partner wollte bisher nicht zustimmen: Italien.

3 Im Plan der Union ist von einem Abkommen mit Österreich die Rede. Was bedeutet das?

Wurden Flüchtlinge in einem Land registriert, mit dem Deutschland kein eigenes Rückführungsabkommen hat, werden sie direkt an der Grenze abgewiesen. Sie dürfen nicht einreisen – und bleiben damit in Österreich. Laut CDU/CSU soll das auf Basis einer „Vereinbarung mit der Republik Österreich“ geschehen. Eine solche müsste aber erst unterzeichnet werden. Es gibt zwar einen Vertrag aus dem Jahr 1998, der Rücknahmen zwischen beiden Ländern regelt. Darin ist aber nur die Vorgangsweise bei illegalen Migranten abgedeckt, nicht bei Asylwerbern.

4 Wie reagiert die österreichische Regierung auf die deutschen Pläne?

Innenminister Herbert Kickl (FPÖ) hat Horst Seehofer am Dienstag telefonisch mitgeteilt, dass er nichts akzeptieren werde, was Österreich schaden könnte. Sollten die Deutschen dennoch ernst machen, will Österreich den Druck weitergeben. ÖVP und FPÖ sprachen am Dienstag von „Maßnahmen zum Schutz unserer Südgrenze“. Konkret würde man also mit eigenen Transitzentren reagieren, etwa in Spielfeld, Bad Radkersburg und am Brenner, wo die nötige Infrastruktur seit der Flüchtlingskrise 2015/16 vorhanden ist.

5 Wie reagieren die Nachbarländer auf die Grenzpläne aus Berlin und Wien?

Slowenien forderte vorerst nur – wie die EU-Kommission – Erklärungen aus Berlin und Wien. Italiens Vizepremier Matteo Salvini dagegen antwortete prompt: Er sei bereit, ab morgen Grenzkontrollen am Brenner einzuführen, denn für Italien wäre das ein gutes Geschäft: „Es sind mehr Migranten, die von Österreich nach Italien ziehen, als umgekehrt“. Der Lega-Chef hatte schon zuvor gedroht, die Grenzen zu schließen – aus Protest gegen Dublin-Regeln, wonach Migranten in jenem EU-Land Asylanträge stellen müssen, das sie als erstes betreten. Salvini, der gestern ebenfalls mit Kickl telefonierte, will auf diese Weise Rückführungen nach Italien verhindern. Rom behauptet, dass vor allem Afghanen und Pakistanis vermehrt über Österreich nach Italien einreisen würden: Sie seien über die Balkanroute gekommen und hätten mehr Chancen auf Asyl in Italien als in Deutschland und Österreich.

6 Wann wollen CDU und CSU ihre Pläne an der Grenze in die Praxis umsetzen?

Geht es nach der Union: So schnell wie möglich. Doch es gibt noch ein paar Hindernisse. Zum einen müssen die Rücknahmeabkommen erst unterzeichnet werden – aus diesem Grund kommt Horst Seehofer am Donnerstag nach Wien. Zum anderen wollen die Transitzentren erst errichtet werden. Außerdem hat der dritte Koalitionspartner, die SPD, noch einige Bedenken.

7 Lassen sich die deutschen Pläne überhaupt mit EU-Recht vereinbaren?

Der deutsche Asylkompromiss steht EU-rechtlich auf wackeligen Beinen, obwohl EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker vorerst Entwarnung gab. Um lückenlos zu kontrollieren, wer nach Deutschland einreist, bräuchte es nämlich eine Verlängerung der temporären Grenzkontrollen. Doch die sind eigentlich nur noch bis November erlaubt.

Danach müssten von Deutschland und Österreich erneut Ausnahmen vom Schengenabkommen beantragt werden. Für die Grenze am Brenner wäre erstmals eine Ausnahme nötig. Angela Merkel hat bereits als Kompromiss eine verstärkte Schleierfahndung im Grenzraum angekündigt.

Rechtlich problematisch ist auch die selektive Interpretation der Dublin-Verordnung durch Deutschland. Zwar will Horst Seehofer den Vertrag dort umsetzen, wo er eine Zurückweisung in das Erstaufnahmeland vorsieht, aber nicht dort, wo ein längeres Rechtsprüfverfahren für diesen Schritt vorgesehen ist. Bei Dublin-Fällen muss beispielsweise geprüft werden, ob ein Asylwerber Verwandte im Zielland hat oder ob er früher bereits einen Aufenthaltstitel in diesem Staat hatte. Außerdem muss die Person Möglichkeiten haben, gegen einen abschlägigen Bescheid zu berufen.

8 Welche Folgen hätten Grenzkontrollen für Frächter und Autofahrer?

Verstärkte Kontrollen bedeuten auch mehr Staus an der Grenze – und die wiederum sind teuer, vor allem für Frächter, die kostbare Reisezeit verlieren: Die Wirtschaftskammer geht in Österreich von 50 Euro an Gesamtkosten pro Stunde und Lkw aus. Negativ wirken sich Kontrollen auch auf den Tourismus aus: Bis zu zwei Stunden Wartezeit drohen am Brenner zur Hauptreisezeit im Sommer.

EU-weit würden sich die volkswirtschaftlichen Gesamtkosten durch eine Wiedereinführung der Grenzkontrollen innerhalb des Schengen-Raumes auf 470 Milliarden Euro belaufen, besagt eine Studie im Auftrag der deutschen Bertelsmann-Stiftung. Prognostiziert werden bis 2025 Wachstumsverluste für Österreich von bis zu 43,2 Milliarden Euro.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.07.2018)

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