Nach seinem Verwüstungszug durch die Karibik trifft Wirbelsturm „Irma“ nun auf die Südspitze der Halbinsel. Millionen Menschen sind zu Unwetterflüchtlingen geworden, in der Tat drohen dem Bundesstaat großflächige Verheerungen.
Es sind genau solche Szenen, wie man sie aus Kriegs- und Katastrophenfilmen kennt, einschließlich so harter wie „The Day After“ von 1983, wo es um einen nahenden Atomkrieg geht und Zehntausende Autos die aus Kansas City führenden Autobahnen verstopfen: Etwa 6,3 Millionen der 21 Millionen Bewohner des US-Staates Florida waren bis Samstag auf der Flucht vor Hurrikan „Irma“, der seit Tagen eine Spur der Verwüstung durch die Karibik gezogen hatte und bis Sonntagmittag die Südspitze Floridas erreichen sollte.
Auf den wenigen Straßen nach Norden herrschte dichter Verkehr bis Stillstand, es ist die bisher größte Evakuierung im „Sunshine State“. Alle großen Attraktionen, etwa Disney World, schlossen wegen „Irma“; in 46 Jahren hat Disney World nur viermal wegen Stürmen zugemacht, und noch nie länger als für einen Tag. Wer nicht fliehen kann (oder will), dem bleibt vor allem Fatalismus: etwa dem Pensionisten Anthony Pesci in seinem kleinen Haus in Fort Lauderdale. Er sei zu kränklich, um abzuhauen, meint er, und übrigens auch zu träge, um sich auf den langen Weg zu machen. „Wird schon hinhauen“, sagt er, und: „Das Einzige, was mir hilft, ist beten. Ist eh alles Gottes Wille.“
Der gesamte Staat im Sturm
Irma ist der größte Sturm, der seit Beginn der Wetteraufzeichnungen Florida trifft, von der Fläche her doppelt so groß wie „Andrew“, der 1992 alles südlich Miami zerstörte. Irma wird den ganzen Staat einnehmen, und das wohl bis Dienstagvormittag, wobei das Zentrum an der Westküste hinauffahren dürfte und man bis Montagfrüh mit anhaltenden Windgeschwindigkeiten von mehr als 252 km/h (höchste Hurrikanstärke 5) rechnen muss. Wettermodelle sehen Irma schwächer noch bis in den Norden Georgias, nach Alabama und South Carolina ziehen. Der stärksteSturm, der Florida traf, ist er indes nicht: Da ab es etwa den „Labor-Day“-Hurrikan von 1935, der mit 260 bis 295 km/h über Süd- und Westflorida brüllte und 400 bis 600 Todesopfer forderte.
Die Bewohner der Halbinsel haben wettermäßig schon viel erlebt – aber diesmal, so heißt es, werde es ernst. Vor allem werden, so wie kürzlich in Texas, gewaltige Regenmengen von 300 Millimeter und mehr pro Tag erwartet. In den nassen Böden der Region wird das nicht versickern können, man erwartet folglich weiträumige und längerfristige Überschwemmungen.
Irma hatte sich spätestens am 30. August im Mittelatlantik westlich der Kapverden gebildet und war über die nördlichen Kleinen Antillen, entlang Puerto Ricos, der großen Insel Hispaniola und Kubas nach Westen gezogen. An Kubas Nordküste wurden am Samstag Winde von 260 km/h bei einer Wandergeschwindigkeit von 20 km/h gemessen. Eine Million Kubaner und mehr als 10.000 Ausländer waren ins Landesinnere geflohen. Berichte über besondere Schäden oder Opfer auf Kuba gab es bis Druck dieser Ausgabe nicht; es ist bekannt, dass die Kubaner bei Stürmen ganz hart im Nehmen sind und Schäden meist moderater ausfallen als bei anderen karibischen Anrainern.
Schwer getroffen hatte „Irma“ Inseln der Kleinen Antillen, etwa die britischen und US-Jungferninseln, Antigua und Barbuda, das US-Gebiet Puerto Rico und französische und niederländische Besitzungen wie die geteilte Insel Saint-Martin/Sint Maarten, eine Reisedestination, deren Infrastruktur Berichten zufolge großteils zerstört oder beschädigt wurde. In diesen Regionen starben mindestens 23 Menschen; britische, französische und holländische Truppen, Schiffe und Fluggeräte wurden für Hilfs- und Sicherungseinsätze in die Region entsandt.
Braut sich was Neues zusammen?
Bis Samstag glaubte man, es könnte ein Hurrikan der Stärke 4 namens „José“ von Osten her kommend dieselbe Route nehmen: Dann aber sagte die US-Wetterbehörde, dass er den Norden der Kleinen Antillen höchstens streifen, gen Nordwesten abdrehen und schwächer werden werde. Hurrikan „Katia“ (Stärke 1, Winde von 119 bis 153 km/h) indes traf am Samstag auf die Küste Zentralmexikos nahe Veracruz, schwächte sich auf Windböen von um die 70 km/h ab und dürfte keine größeren Schäden verursacht haben. Nahe der Kapverden braute sich unterdessen am Samstag ein neues Unwetter zusammen. Die Chance, dass daraus wieder ein nach Westen ziehender Hurrikan entsteht, wurde vorerst mit zehn Prozent beziffert.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.09.2017)