Fukushima: Neue Kettenreaktion?

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Der Austritt des radioaktiven Edelgases Xeno-133 nährt die Befürchtungen, dass sich im Reaktor 2 des zerstörten Atomkraftwerkes im nordjapanischen Fukushima unkontrollierbare Zerfallprozesse aufschaukeln.

Tokio/Wien. Das im März durch einen Tsunami schwer beschädigte nordjapanische AKW Fukushima I hält das Land auch acht Monate später auf Trab: Bei Messungen im Reaktor 2 wurden Spuren des Edelgases Xenon gefunden. Das könnte bedeuten, dass es im Reaktorkern stabile, aber unkontrollierbare Kettenreaktionen gibt. Schlimmstenfalls könnten sie sich aufschaukeln und so viel Energie erzeugen, dass Temperatur und Druck stark steigen und das Reaktorgebäude noch schwerer beschädigt wird.

Japans Atomaufsichtsbehörde und der Betreiberkonzern Tepco betonten, man habe keine Erwärmung oder Drucksteigerung gemessen, es habe sich vielleicht um eine irrige Messung gehandelt. Es gebe keinen systematischen Anstieg der Zerfallprozesse, man leite aber wieder Borsäure in den Reaktor. Diese hemmt atomare Kettenreaktionen.

Brennstäbe glühen immer

Anders als in vielen Medien kolportiert waren die Reaktoren von Fukushima in den vergangenen Monaten, nachdem man Kernschmelzen in drei Reaktoren vorerst in den Griff bekommen hatte, keineswegs „still“: Die Brennstäbe bleiben notwendigerweise radioaktiv und emittieren Neutronen und andere Produkte des Atomzerfalls. Das tun sie noch über mehr als eine Milliarde Jahre mit sinkender Intensität. Es ist falsch, aufgrund der Xenon-Funde davon zu sprechen, dass es „wieder Kernspaltung“ gegeben habe.

Was es aber zu verhindern gilt, ist, dass die Zerfallprozesse „kritisch“ werden, also selbsttragend. Dass ein Atomzerfall mehrere andere auslöst und so weiter, eben eine stabile Kettenreaktion. Solange man sie kontrollieren kann, dient sie im Reaktor zur Stromerzeugung, falls aber die Kontrolle darüber entgleitet, kann sie eine Kernschmelze samt weiträumiger Verstrahlung verursachen. Um die Kettenreaktion zu verhindern werden die Reaktoren mit Wasser und Borsäure geflutet, man macht quasi den Raum zwischen den Brennstäben für Teilchen „dicht“.

Ein Sprecher von Tepco räumte freilich ein, dass es einen „isolierten kritischen Zustand“ gegeben haben könnte, also eine einzelne Kettenreaktion – denn bei einer solchen entstehen zahlreiche Nebenprodukte des Kernzerfalls wie das erwähnte Edelgas Xenon, diesfalls dessen Isotop Xenon-133, Halbwertszeit: etwa fünf Tage.

„Temporäre Kettenreaktion“ möglich

Ähnliches vermutet der Technische Physiker Helmuth Böck vom Atominstitut der Uni Wien: In Teilen des Reaktorkerns könne es sozusagen „lokale temporäre stabile Kettenreaktionen“ gegeben haben, was er aber nur für eine „Deutung“ halte, zudem könne man mit frischer Borsäure „bremsen“. Es sei auch sehr gut möglich, dass man etwas anderes gemessen habe, das eine Kettenreaktion nicht zwingend voraussetzt – das könne man bei genauerer Sichtung der Messergebnisse in Kürze sicher beurteilen.

Auch andere Wissenschaftler sind gegen Alarmismus: „Ein kritischer Zustand würde von einem Strahlungsausbruch begleitet, den es bisher nicht gab“, sagt etwa Richard Wakeford von der Universität Manchester. Der Physiker Paddy Regan von der University of Surrey (Großbritannien) betont, dass es auch in gekühltem nuklearen Brennstoff permanent „ein Grundmaß an Kernzerfallsprozessen“ gebe.

Die Lage scheint dennoch fragiler als heute oft angenommen. Wie groß die Schäden durch die drei Kernschmelzen sind, ist bisher weiter unbekannt, denn in die „Containments“, die inneren Herzen der Reaktoren, kann man praktisch nicht hinein. Das „atomare Gespenst“ von Fukushima spukt also weiter, japanische Medien bezweifeln offen, dass es realistisch ist, die havarierten Reaktoren bis zum Jahresende gänzlich und wirklich unter Kontrolle zu bekommen.

Zudem behauptet eine vergangene Woche publizierte Studie, dass die bisher emittierte Fukushima-Strahlung weit höher ist, als Japans Regierung offiziell angegeben hat. Allein vom Isotop Cäsium-137 sei mehr als doppelt so viel in die Atmosphäre gelangt als angegeben. Welche Folgen das für die japanische Bevölkerung haben könnte, kann aber auch diese Studie nicht feststellen.

Ein Schluck vom „Strahlenwasser“

Dem Fukushima-Gespenst setzen einzelne Politiker teils bizarre PR-Aktionen entgegen: So hat der Parlamentarier Yasuhiro Sonoda von der regierenden Demokratischen Partei vor wenigen Tagen demonstrativ ein Glas Wasser getrunken, das man einer Lacke in der Atomruine Fukushima entnommen hatte. Er war allerdings sichtlich nervös, als er trank, und sagte darauf: „Ich glaube nicht, dass das die Sicherheit (Fukushimas,Anm.) beweisen kann.“ Subtext S. 27

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.11.2011)

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