Österreich Hauptprofiteur der großen EU-Erweiterung

Bilanz. Trotz aller Vorurteile hat die heimische Wirtschaft großen Nutzen aus dem Beitritt der zehn Länder im Jahr 2004 gezogen.

Wien. In angeregten Diskussionsrunden ist die EU-Erweiterung mitunter ein beliebtes Reizthema. Das Wort allein ruft Vorurteile wach, die den Österreicher gemeinhin in Erregung versetzen: den massenhaften Zuzug billiger Arbeitskräfte aus dem Osten, die Erhöhung der Kriminalität sowie Mehrkosten für das heimische Sozialsystem, um nur drei zu nennen.

Betrachtet man die nackten Zahlen, hat jedoch nicht nur die österreichische Wirtschaft, sondern auch die Bevölkerung von der bisher umfangreichsten Erweiterung im Jahr 2004 überdurchschnittlich profitiert. Damals traten die zehn Länder Polen, Slowenien, Slowakei, Ungarn, Tschechien, Malta, Zypern sowie Estland, Lettland und Litauen der EU bei. Die Wachstumsraten der österreichischen Nachbarländer Slowenien, Slowakei und Tschechien lagen schon 2007 weit über jenen Österreichs und der alten Mitgliedstaaten, wie Zahlen der Wirtschaftskammer (WKÖ) belegen. Während die EU-15 nur ein durchschnittliches Wachstum von 2,7Prozent jährlich verzeichnen konnten (Österreich: 3,1%), waren es in Slowenien 6,8, in Tschechien sechs und in der Slowakei 10,4Prozent. Ungarn hinkte mit 1,1 Prozent deutlich hinterher.

9000 Arbeitsplätze jährlich

Die neuen Mitgliedstaaten zählten also im Vergleich zu den wirtschaftlich stagnierenden Ländern Westeuropas zu den aufstrebenden Märkten innerhalb der Union – und davon profitierte Österreich am allermeisten. Die Erweiterung im Jahr 2004 allein bewirkte hierzulande einen langfristigen jährlichen Zuwachs des realen Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 0,4 Prozent und die zusätzliche Schaffung von 9000 Arbeitsplätzen im Jahr.

Die volle Integration der neuen Mitgliedstaaten in den Europäischen Binnenmarkt bedeutete für den österreichischen Außenhandel starke Zugewinne. Ein Drittel der gesamten Exporte ging in den vergangenen 15 Jahren in diese neuen Mitgliedstaaten, wie das Institut für Wirtschaftsforschung (Wifo) errechnet hat. Insgesamt haben sich die österreichischen Lieferungen in die Region beinahe verdreifacht.

Der Außenhandel mit den neuen Mitgliedstaaten erfuhr aber schon vor deren Beitritt einen gewaltigen Auftrieb. Seit 1995 haben sich die Exporte nach Ungarn, Slowenien, Tschechien, Polen und in die Slowakei von vier Milliarden Euro auf 16,8 Milliarden Euro mehr als vervierfacht. Aufgrund der Wirtschaftskrise gab es 2009 zwar einen starken Einbruch auf 12,7 Milliarden Euro. Schon 2011 stieg der Wert aber fast wieder auf das Niveau von 2008.

Der intensive Handel mit den neuen Mitgliedstaaten ist mit ein Grund dafür, dass Österreich die Krise insgesamt gut überstanden hat und nicht in eine Rezession geschlittert ist. Ein zweiter Faktor ist die starke Investitionstätigkeit heimischer Unternehmen in den mittel- und osteuropäischen Staaten.

Im Zuge der zweiten Osterweiterung mit Bulgarien und Rumänien im Jahr 2007 erweiterte Österreich seine Geschäftstätigkeit auch in den beiden Ländern stark. In diesen Zeitraum fällt etwa die Übernahme des rumänischen Ölkonzerns Petrom durch die OMV oder jene der bulgarischen MobiTel durch die Telekom Austria. Insgesamt stiegen die österreichischen Direktinvestitionen in den neuen Mitgliedstaaten von 0,4 Milliarden Euro im Jahr 1990 auf 63,6Milliarden Euro im Jahr 2011. Fast die Hälfte aller Direktinvestitionen Österreichs im Ausland werden im mittel- und osteuropäischen Raum getätigt. Doch nicht nur die Unternehmen, auch die Arbeitnehmer auf beiden Seiten profitierten vom gemeinsamen Markt: Allein die Tochterunternehmen österreichischer Konzerne beschäftigten 2007 knapp 408.000 Arbeitskräfte.

Der heimische Tourismus profitierte vom wachsenden Einkommen und Wohlstand in den neuen Mitgliedstaaten besonders stark. Seit der ersten Erweiterungsrunde 2004 stieg die Zahl der Nächtigungen von Staatsbürgern dieser Länder um die Hälfte. Auch die Besucherzahlen bulgarischer (plus 58,2%) und rumänischer Touristen (plus 123,5%) wächst seit 2006 sprunghaft an. Umgekehrt kämpfen Gewerbe wie die Baubranche mit einer verschärften Wettbewerbssituation.

Nichtproblem Grenzöffnung

Trotz der großteils positiven Entwicklungen durch die beiden letzten Erweiterungen hat es sich die Politik in den letzten Jahren nicht immer zum Ziel gemacht, die anfangs genannten Ressentiments zu entkräften. Jüngstes Beispiel ist ein Brief, der in Brüssel seit Wochen für Verwirrung sorgt und den auch Innenministerin Johanna Mikl-Leitner unterzeichnet hat: Darin fordern einige Mitgliedstaaten die Kommission zu Maßnahmen gegen „Sozialtourismus“ in ihre Länder auf, der sich durch die Grenzöffnung für Bulgaren und Rumänen ab Jänner 2014 noch verschärfen könne. In Österreich gibt es dieses Problem nicht – das bestätigt das Innenministerium. „Aus Solidarität“ – und wohl aus wahltaktischen Gründen – hat man das Schreiben mitunterzeichnet.

Entwarnung gibt die Ministerin angesichts der landläufigen Befürchtung, der hiesige Arbeitsmarkt würde durch den Wegfall der Grenzen mit billigen Arbeitskräften überschwemmt: Seit der Öffnung für die 2004 beigetretenen Staaten im Mai 2011 habe es „keine spürbaren Auswirkungen“ gegeben, so Mikl-Leitners Sprecher, Hermann Muhr, zur „Presse“. Dies sei auch für Bulgaren und Rumänen nicht zu erwarten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.06.2013)

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